Die Legende der Wächter 8: Die Flucht
ja Kunst!“, rief Ellie aus.
Bubbles atmete auf. „Eben. Ich habe Kunst gegen Kunst getauscht.“ Aber ihre Erleichterung war von kurzer Dauer, denn Ellie regte sich schon wieder auf.
„Es gibt nur eine einzige Schmiedin, die Kunst herstellt, eine einzige, die mit Silber umgehen kann – und das ist die Schmiedin von Silberschleier. Sie würde NIEMALS eins ihrer Kunstwerke gegen einen Gemäldefetzen eintauschen – niemals! Wie kann man nur so dumm sein! Bist du denn gar nicht auf die Idee gekommen, dass da etwas nicht stimmt? Offenbar ist der Schmiedin etwas Schlimmes zugestoßen. Ich muss sofort hinfliegen. Sofort!“ Ellie flatterte durch eins der zersprungenen Fenster ins Freie.
„Das wollte ich nicht. Ich kann nichts dafür!“, schluchzte Bubbles. „Nehmen Sie sich unterwegs vor den Krähen in Acht, Chefin!“
„Lochinvyrr“, wiederholte Coryn das fremdartige Wort. „So nennt ihr also den Blick, den ein Wolf und seine sterbende Beute wechseln.“
„Wir haben seltsame Bräuche, ich weiß.“
„Seltsam, aber auch schön. Man hat den Eindruck, dass die Beute mit ihrem Tod einverstanden ist.“
„Ja, und der Jäger wiederum bittet die Beute, ihr das Leben nehmen zu dürfen.“
„Er bittet darum. Er nimmt es sich nicht einfach. Das ist gut.“
„Richtig. Nur so kann der Geist der getöteten Beute anschließend den Sternenpfad betreten, der in die himmlische Höhle der Seelen führt.“
„Das erinnert mich an unser Glaumora, das Eulenparadies. Aber unser Paradies ist der ganze Himmel, nicht nur eine Höhle.“
„Ihr Eulen seid ja auch Himmelsgeschöpfe.“
Hamisch und sein Clan waren eindeutig Erdengeschöpfe. Beim Laufen bewegten sie sich unübertroffen anmutig und schienen nie müde zu werden. Sogar der lahme Hamisch konnte stundenlang laufen, auch wenn er oft ein Stück hinter dem Clan zurückblieb.
„Wirst du deinem Schüler, dem kleinen Coryn, auch etwas über Lochinvyrr erzählen?“, erkundigte sich Hamisch.
„Ich glaube, das wäre eine gute Lehre für einen künftigen König.“
„Der Chef ist aufgestanden“, sagte Hamisch plötzlich. „Wir ziehen weiter.“ Der Anführer des Clans, Duncan MacDuncan, war aufgewacht und hatte sich erhoben und auch seine Gefährtin und ihre Welpen rappelten sich hoch.
Coryn begleitete die Wölfe nun schon ein paar Tage. Sie hatten ihm Schutz gewährt und er lernte viel von ihnen. Wie die Eulen waren auch die Wölfe am liebsten nachts unterwegs und jagten bei Dunkelheit. Den Tag verschliefen sie meistens in geräumigen Höhlen entlang ihres Weges. Hamisch und Coryn zogen sich immer in den hintersten Winkel zurück, denn Hamisch hielt sich stets am Rand der Gruppe. Das hatte auch Vorteile, denn auf diese Weise konnten sich die beiden ungestört unterhalten.
Unterwegs hielt der Clan eine genau durchdachte Laufordnung ein, „Byrrgis“ genannt. Die Byrrgis richtete sich nach dem Wetter. War es einigermaßen windstill, liefen die Wölfe in einer langen Reihe. Sie hielten die Schwänze leicht aufgerichtet und legten das Nackenfell glatt an. Die Weibchen waren schneller als die Männchen, darum liefen sie oft an der Spitze. Nur wenn hoher Schnee lag, übernahmen die schwereren Männchen die Führung und trampelten eine Spur frei. Bei starkem Gegenwind war es ähnlich. Dann schützten die Männchen die hinten laufenden Weibchen mit ihren breiten Schultern vor dem Wind. Tauchte dann ein Rentier auf, flitzten die Weibchen los und brachten es zur Strecke. Auf diese Weise konnten die Wölfinnen ihre Kräfte schonen, bis sie gebraucht wurden. Das fand Coryn ziemlich schlau. Er prägte sich die Byrrgis fest ein. Vielleicht konnten sich auch die Eulen diese Methode irgendwann zunutze machen.
Ja, er hatte sich inzwischen einiges an Wissen angeeignet. Aber war es schon genug, um Lehrer eines Königs zu werden? Die Heiligen Vulkane hatte er auch noch nicht gesehen. Und ein Thema mied Hamisch beharrlich: seine Aufgabe als Knochennager. Doch auch Coryn erzählte nicht alles von sich. Er hatte Hamisch zwar anvertraut, dass er in die Hinterlande gekommen war, um sich zum Lehrer des kleinen Coryn fortzubilden, aber er hatte sich Hamisch bis jetzt noch nicht als Feuerseher zu erkennen gegeben. Auch sein eigentliches Ziel, die Vulkane, verriet er nicht. Dabei wäre es Coryn ein Leichtes gewesen, einfach loszufliegen und in die Feuer speienden Krater zu spähen. Er wusste selbst nicht, was ihn davon abhielt. Vielleicht fürchtete er sich vor dem, was er erblicken
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