Die Legende der Wächter 8: Die Flucht
höchsten Berg der Umgebung. Oben angekommen, legte sie mich auf einen Felsvorsprung. Sie hoffte, dass mich die Wolfsvögel dort finden und fressen würden. An mir klebten noch die Reste der Fruchtblase und das Blut von der Geburt. Das konnte auch Raubkatzen oder Grizzlybären anziehen. Wenn ich zu sehr gezappelt hätte, wäre ich aber auch einfach nur in die Tiefe gestürzt und hätte mir das Genick gebrochen.“
„Wie konnte sie so herzlos sein?“
„Das ist nicht herzlos, das ist ein alter Brauch bei uns Wölfen. Wenn so ein Welpe überlebt, wird er Knochennager und der Clan nimmt ihn wieder auf.“
„Und du hast überlebt.“
„Duncan kam nach mir schauen und hat mich zum Clan zurückgebracht.“
„Hat dich deine Mutter dann wieder angenommen und aufgezogen?“
„Sie war nicht mehr da und mein Vater auch nicht.“
„Warum nicht?“
„So will es der Brauch. Wenn eine Wölfin einen behinderten Welpen zur Welt bringt, müssen beide Eltern den Clan für immer verlassen.“
„Wo gehen sie hin?“
„Manche schließen sich anderen Clans an. Aber meist spricht sich ihr Unglück schnell herum und sie werden überall weggeschickt. Niemand will Wolfseltern aufnehmen, deren Welpen krank sind.“
Coryn schwieg. Was Hamischs Mutter getan hatte, war schlimm, keine Frage. Aber mit Nyras Grausamkeit war ihre Verzweiflungstat nicht zu vergleichen.
„Was würdest du tun, wenn du deiner Mutter hier in den Hinterlanden wieder begegnen würdest?“, fragte Hamisch.
„Das wäre schlecht, aber nicht nur für mich. Sie will hier sicher Kämpfer anwerben. Sie träumt nämlich davon, den Tytonenbund der Reinen wieder aufzubauen. Sie plant, sich zur Herrscherin über die gesamte Eulenwelt aufzuschwingen.“
Hamisch spürte die Sorge seines Freundes. „Es ist noch lange nicht gesagt, dass es ihr gelingt“, erwiderte er beschwichtigend. Um Coryn nicht noch mehr aufzuregen, wechselte er das Thema und brachte das Gespräch auf die alten Legenden, die der junge Eulerich so liebte. „Es war in der Zeit, bevor Hoole aus dem Ei schlüpfte. In der Eulenwelt herrschte Chaos. Krieg und Unruhen waren an der Tagesordnung. Dann brachte Gränk den jungen Hoole hierher in die Hinterlande und bildete ihn zum Glutsammler aus. Eines Tages hatte Hoole eine Vision, einen Wachtraum. Manche behaupten, der Rauch aus den Vulkankratern habe die Bilder erzeugt. Aber das ist eigentlich unwichtig. Auf jeden Fall konnte Hoole plötzlich in einen der Vulkane hineinschauen, er blickte durch den Fels wie durch Glas. Dann flog er geradewegs in den brodelnden Krater hinein und holte das Glutstück heraus, das fortan seinen Namen trug.“
„Wieso ist er nicht verbrannt?“
„Das weiß man nicht. Als er nach einem langen Leben sein Ende nahen fühlte, kehrte er in die Hinterlande zurück und versteckte die Glut in einem der Vulkane. In welchem, weiß niemand. Doch noch lange nach seinem Tod haben immer wieder Glutsammler versucht, die Glut von Hoole zu bergen. Die Heilige Garde bewacht die Vulkane, damit sie nicht in die falschen Fänge gerät. Auch heute noch ziehen die Vulkane viele Glutsammler an, weil man in den Lavaflüssen die beste, heißeste Glut findet. Außerdem reiten die Glutsammler gern auf der Lohe.“
„Was ist eine Lohe?“
„Lohe nennt man die heißen Luftströme, die aus den Kratern aufsteigen. Offenbar sind sie für euch Flieger eine sportliche Herausforderung. Du wirst es ja bald selbst sehen.“
Um Mitternacht kamen endlich die Heiligen Vulkane in Sicht. Der Sternenwolf – so nannten die Wölfe jenes Sternbild, das bei den Eulen Kleine Waschbär hieß – war noch nicht erschienen. Stattdessen wurde der Himmel von Flammenschein rot gefärbt. „Es sieht aus, als ob der Himmel blutete“, sagte Coryn halblaut zu sich selbst, als er auf einem Felsvorsprung landete.
„ Blutet? Ja … das trifft es ganz gut, finde ich.“
„Wer ist da?“ Coryn hatte niemanden gesehen. Er bekam es mit der Angst zu tun und fing an zu zittern. War das seine Mutter? Aber es war nicht ihre Stimme gewesen. Aber wer sonst konnte es sein? Sollte er wegfliegen? Hinter ihm war ein Felsspalt, gerade groß genug für einen jungen Schleiereulerich. Coryn zwängte sich rückwärts hinein. Uff, ist das eng! Er kroch wieder hinaus und versuchte es mit dem Kopf voran. Bestimmt schauten seine Schwanzfedern noch heraus! Er hörte Flügelschläge. Etwas streifte seinen Schwanz.
„Warum in Glaux’ Namen versteckst du dich? Ich will dir nichts tun.
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