Die Legende der Wächter 8: Die Flucht
Ich will nur ein bisschen plaudern. Weißt du, die Bewohner dieses Landes sind ziemlich schroff und wortkarg. Anders ausgedrückt: Sie beherrschen die hohe Kunst der Konversation nicht. Komm heraus und lass uns einen kleinen Schwatz halten. Mich führt ein Auftrag in diese unwirtliche Gegend – ein Auftrag, von dem ich leider noch nicht so recht weiß, worin er besteht. Aber kommt Zeit, kommt Rat, wie Strix Struma immer zu sagen pflegte.“
Die Stimme der fremden Eule klang freundlich, der Tonfall deutete auf eine Fleckenkäuzin hin. Ihre Worte machten Coryn neugierig.
„Mir geht es ähnlich“, erwiderte er. „Auch ich habe eine Aufgabe zu erfüllen und weiß nicht genau, wie sie lautet.“
„Komm heraus und erzähl mir mehr.“
Coryn tschurrte verlegen. „Das ist nicht so einfach. Ich stecke fest.“
„Würdest du es zudringlich finden, wenn ich dich ein bisschen am Schwanz ziehen würde?“
„Oh nein – nur zu!“
„Ich passe auch auf, dass ich dir keine Feder ausreiße.“
„Das wäre nicht so schlimm. Ich bin ohnehin in der Mauser.“
„Du bist offenbar ein sehr redegewandter junger Eulerich.“
Coryn wusste nicht, was er erwidern sollte, und sagte stattdessen: „Erzähl mir doch etwas über deinen Auftrag.“
„Wie schön, dass ich endlich jemandem begegne, der ein gepflegtes Gespräch zu schätzen weiß. Von allen anderen hier bekommt man immer nur zu hören: Frag nicht nach Namen, frag nicht nach Herkunft oder danach, was jemand hier macht. Ich erzähle dir gern, was mich hergeführt hat.“ Die fremde Käuzin versetzte Coryns Schwanz einen sanften Ruck und Coryn glitt ein Stückchen aus dem Felsspalt heraus.
„Halte mich bitte nicht für gaga“, fuhr die Käuzin fort und zog nun noch einmal etwas kräftiger an Coryns Schwanz, „aber mir ist eines Morgens der Geisterschnabel meiner geliebten Lehrerin Strix Struma erschienen.“
„Wie bitte?“ Coryn rutschte endgültig aus dem Felsspalt heraus und drehte sich um. Sprach die fremde Käuzin etwa von der freundlichen alten Geisterkäuzin, die ihm auf seiner Flucht erschienen war und ihn aufgefordert hatte, mit ihr im Geisterwald auf eine andere Käuzin zu warten? Auf eine Käuzin namens …
„Otulissa!“, rief Coryn ungläubig aus. Da gellte ein grässlicher Schrei durch die Nacht.
„ NYRA !“, kreischte die Fleckenkäuzin, legte die Flügel an und wurde starr. Sie schwankte – und stürzte von dem Felsvorsprung in die Tiefe.
„Glaux hilf, ich habe sie umgebracht!“, rief Coryn entsetzt.
Da erschien wie aus dem Nichts ein stattlicher Maskeneulerich und fing die Fallende im letzten Augenblick auf.
„Reißt Euch zusammen, Gnädigste! Na los, schlagt mit den Flügeln, Mädel – so ist’s brav.“
„Ich bin nicht dein Mädel! Ich befehlige die Strix-Struma-Kauzkämpfer und bin Ryb im Großen Baum!“
Der Maskeneulerich hatte die Fleckenkäuzin auf einen tiefer gelegenen Felsvorsprung gehievt. Coryn flog zu den beiden hinunter.
„Hat sie sich wehgetan?“, fragte er besorgt, aber dann riss er staunend die Augen auf: „Gwyndor!“
„Nyroc, mein Kleiner! Dass ich dich hier treffe! Ich hab so gehofft, dass du den Weg hierher finden würdest.“
„Nyra!“, rief Otulissa abermals aus.
„Nein, nein – das ist nicht Nyra“, sprach Gwyndor besänftigend auf sie ein. „Schaut doch mal hin, Gnädigste“, setzte der Schmied hinzu. „Ihr habt es mit einem Männchen zu tun, nicht mit einem Weibchen.“
„Aber das Gesicht … die Narbe …!“ Otulissas Stimme überschlug sich hysterisch. „Ich selbst habe ihr die Wunde zugefügt, nachdem sie Strix Struma getötet hatte. Ich würde dieses Eulengesicht überall wiedererkennen!“
„Diese Narbe stammt aber nicht von dir“, widersprach Coryn. „Meine eigene Mutter, Nyra, hat mir das Gesicht aufgeschlitzt.“
Otulissa musterte den jungen Eulerich ausgiebig. „Deine eigene Mutter!“, sagte sie halb staunend, halb erschrocken.
„Sie war zornig auf mich, weil ich ihr nicht gehorchen wollte. Bitte glaub mir, dass ich ganz anders bin als meine Eltern! Ich heiße übrigens auch nicht mehr Nyroc, Gwyndor. Ich bin jetzt Coryn.“
„Coryn …“, wiederholte Otulissa leise. Der Name klingt ganz ähnlich wie Soren . Überhaupt fand sie jetzt, dass der junge Eulerich Soren sehr ähnlich sah. „Und woher weißt du, wie ich heiße?“, fragte sie schließlich.
„Zum ersten Mal habe ich deinen Namen im Traum gehört. Dann ist mir eine Geistereule
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