Die Legende der Wächter 8: Die Flucht
Crathmore wieder da und legte ein Bündel auf den Boden, das irgendwelche Lederfetzen zu enthalten schien.
Die Wölfe des MacDuncan-Clans drängten sich neugierig um das sonderbare Geschenk.
„Was soll das sein?“, fragte einer.
„Das sind Kunstwerke – Gemälde. Sie stellen die Augen der Anderen dar, und die waren grün!“
„Vielleicht hat sich ja ein Wolf bei den Anderen eingeschlichen und sich mit ihnen gepaart“, sagte Duncan und erntete damit schallendes Gelächter.
Auf einmal hatte Coryn ein ungutes Gefühl. Die Hitze des Feuers drang bis zu ihm herüber, aber er wagte immer noch keinen Blick in die Flammen. Stattdessen beobachtete er den Eingang der Streunerburg, zu dem gerade ein struppiger Wolfswelpe hereinschlich. Jemand hatte ihm den Schwanz abgebissen und er hinkte. Coryn drehte sich der Magen um. Das Gewölle von seiner letzten Mahlzeit kam ihm hoch, aber er konnte es unmöglich hier auswürgen, das gehörte sich nicht. Er hätte schwören können, dass der Welpe mit voller Absicht verstümmelt worden war, damit er Knochennager werden konnte.
„Darf ich euch Cody vorstellen, unseren Knochennager?“, sagte das Oberhaupt der MacHeath. „Zeig dem edlen Duncan deine Werke.“
Cody tappte humpelnd in den hinteren Teil der Höhle und holte ein paar benagte Knochen herbei. Eine hellbraune Wölfin schaute ihm nach, dann traf ihr Blick Coryn. Unendlicher Kummer lag in ihren Augen. Die fremde Wölfin schien den jungen Eulerich zu mustern. Starrte sie seine Narbe an? Wenn sie wüsste, dass ich von meiner eigenen Mutter verstümmelt wurde!
„Ihr seht, edler Duncan, der Kleine ist sehr begabt.“
„Gewiss.“ Duncan MacDuncan konnte seinen Abscheu nur mit Mühe verbergen.
„Seine Urgroßmutter war übrigens eine MacDuncan“, setzte der Anführer der MacHeath hinzu.
Es entspann sich eine längere Unterhaltung, in deren Verlauf der edle MacHeath dem edlen MacDuncan immer wieder ans Herz legte, den Knochennager Cody in die Heilige Garde aufzunehmen. Coryn ertrug den Anblick des verstümmelten Welpen kaum. Als er sich abwandte, sah er aus dem Augenwinkel den rötlichen Schein der Feuerstelle. Dieser eine flüchtige Blick genügte. Coryn konnte sich nicht länger beherrschen. Er drehte sich um und betrachtete erst die Flammen und dann die glühenden Holzkohlen – und erblickte ein rußverschmiertes Eulengesicht. War es ein Freier Schmied bei der Arbeit? Doch hinter der Rußschicht erschien ein weißes Gesicht, groß und strahlend wie der Mond selbst. Quer durch das Gesicht zog sich eine lange Narbe wie seine eigene. Nyrocs Magen erstarrte zu Eis. Nyra war hier! Hier in der Streunerburg des MacHeath-Clans! Von ihr haben die Wölfe die gemalten Augen!
„Warum hast du mir das alles nicht schon früher erzählt, Coryn?“, fragte Hamisch.
„Ich hab’s nicht über mich gebracht. Ich weiß auch nicht, warum.“
Hamisch überlegte, dann entgegnete er: „Ich kann dir sagen, warum: Du besitzt eine besondere Gabe. Du bist ein Feuerseher. Wer eine besondere Gabe hat, wird zum Außenseiter. Natürlich finden alle anderen solche Begabungen toll, aber du und ich, wir beide wissen es besser. Wir beide wissen, dass diese Gaben einsam machen. Wir beide sind Ausgestoßene.“
„Da hast du Recht. Aber ich bin nicht nur wegen meiner Gabe ein Ausgestoßener. Meine Eltern sind die bösesten Eulen, die es je gab. Die Narbe in meinem Gesicht hat mir meine eigene Mutter mit ihren Krallen zugefügt.“ Coryn erwartete, dass Hamisch bestürzt reagieren würde. Doch dem jungen Wolf war nichts anzumerken. „Wie würdest du es finden, wenn deine eigene Mutter dir so etwas antun würde?“
„Meine Mutter hat mir sogar noch Schlimmeres angetan. Allerdings nicht freiwillig, sondern weil unser Brauch es verlangt.“
Coryn wunderte sich. Er hatte immer angenommen, dass Hamischs Mutter bei seiner Geburt gestorben war. Jedenfalls schien keine der älteren Wölfinnen des Clans mit dem jungen Knochennager vertraut zu sein.
„Ist deine Mutter auch eine MacDuncan?“
„Ursprünglich schon.“
„Was hat sie dir denn Schlimmes angetan?“
„Wir Wölfe kommen blind und taub zu Welt. Nach ein paar Tagen können wir hören, aber bis wir endlich die Augen öffnen, dauert es bis zu elf Tagen. Als meine Mutter nach meiner Geburt sah, wie hässlich ich bin und dass ich ein zu kurzes Bein habe, leckte sie mich gar nicht erst sauber, sondern nahm mich ins Maul und lief mit mir in die kalte Nacht hinaus. Sie kletterte auf den
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