Die Legende der Wächter 8: Die Flucht
seinem Schüler Hoole. Gyllban setzte sich bequemer hin und spitzte wieder die Ohren.
„Manche behaupten sogar, der junge Schleiereulerich sei Hooles Nachfolger und werde die Glut aus dem Vulkan bergen“, fuhr der Clanführer der MacHeath fort.“
„Das wäre entsetzlich!“, entfuhr es Nyra.
„Warum, Oberste Mutter?“
„Die Glut von Hoole darf auf keinen Fall an den Falschen geraten, da sind wir uns ja wohl einig“, sagte sie rasch.
„Allerdings.“
„Wenn es sich um den Eulerich handelt, den ich im Verdacht habe, dann droht uns allen großes Unheil. Kannst du ihn mir beschreiben?“
„Er hat für sein Alter einen sehr großen Gesichtsschleier, über den sich eine lange Narbe zieht.“
Nyra wurden die Knie weich. Das konnte nur Nyroc sein! Nicht auszudenken, wenn Nyroc die Glut von Hoole an sich brachte! Sie wandte sich wieder dem Clanführer zu, aber sie konnte sich nicht mehr auf seine Worte konzentrieren, ihre Gedanken schweiften immer weiter ab. Was faselt der alte Langweiler da? In dieser Höhle stinkt es abscheulich. Die Wölfe haben furchtbare Blähungen. Das kommt davon, dass sie das schwer verdauliche Wintergras fressen. Sie gewähren mir Zuflucht – na danke! Nyra zwang sich, wieder zuzuhören. Der Clanführer sagte gerade irgendetwas über die Bedeutung von Narben.
„Wisst Ihr, wir Wölfe legen großen Wert auf Narben. Unsere Narben erzählen von unserem Leben. Wenn Ihr wollt, zeigen wir sie Euch.“
„Oh ja, gern.“ Beim Glaux, das wird ja immer schlimmer. Jetzt soll ich mir auch noch die Narben von diesem stinkenden Pack anschauen!
Der Anführer stellte stolz die lange Narbe auf seinem Bauch zur Schau. Auch die anderen Wölfe zeigten Nyra die Spuren alter Verletzungen. „Die hier hat Ross von einem Geplänkel mit den MacDuncans zurückbehalten. Edwin hat sein Ohr bei einem Überfall der MacMillans eingebüßt und Gyllban …“, die hellbraune Wölfin trat vor, „… Gyllban hat von einer Beißerei mit den MacAndrews eine Narbe auf der Schulter zurückbehalten.“
Gyllban nutzte die Gelegenheit, das Schleiereulenweibchen aus der Nähe zu betrachten. Unter dem Ruß im Gesicht der Fremden erspähte sie eine ganz ähnliche Narbe, wie sie sich über den Gesichtsschleier des jungen Schleiereulerichs Coryn zog. Nyras Blick schien Gyllban verschlagen. Aber es hatte keinen Zweck, den Clanführer darauf anzusprechen. Der Alte ließ sich sowieso nichts sagen, und wenn doch, dann höchstens von seinen Edlen. Denn trotz ihrer eindrucksvollen Narbe war Gyllbans Rang im Clan viel zu niedrig. Es war kein Zufall, dass der Anführer gerade ihren Welpen verstümmelt hatte, weil er unbedingt einen Knochennager in die Heilige Garde entsenden wollte. Sie hatte MacHeath sogar noch anflehen müssen, sie nicht wegzuschicken wie die anderen Wölfinnen, die behinderte Welpen zu Welt brachten. Der Alte hatte ihr erlaubt zu bleiben. Aber er hatte ihren Gefährten weggeschickt und Gyllban jeden Kontakt mit ihrem Sohn verboten. Cody war von einer fremden Wölfin aufgezogen worden und Gyllbans mit Milch gefüllte Zitzen hatten fürchterlich geschmerzt. Dieses Leid hatte sie dem Oberhaupt nie verziehen. Jetzt trottete sie wieder auf ihren Platz.
Während Nyra scheinbar interessiert die Narben der Wölfe begutachtete, kam ihr eine Idee. „Edler MacHeath – diese eindrucksvollen Narben machen mir einmal mehr klar, dass Euer Clan etwas ganz Besonderes ist. Weil ihr alle so tapfer und zäh seid, ist es euch vorherbestimmt, für eine große Sache zu kämpfen. Was Ihr mir von diesem Coryn berichtet, beunruhigt mich zutiefst. In der Eulenwelt erzählt man sich nichts Gutes über ihn. Und dann hat er auch noch Zuflucht bei den MacDuncans gefunden, die euch so schändlich betrogen haben. Stellt Euch nur vor, wie sich die MacDuncans erst aufführen werden, wenn Coryn die Glut von Hoole in seinen Besitz bringen würde!“
Zorniges Knurren wurde laut. Die Wölfe sträubten das Nackenfell und stellten die Ohren auf.
„Aber ich verspreche Euch, edler MacHeath“, fuhr Nyra fort, „wenn das geschieht, lasse ich Euch nicht im Stich. Dann hetze ich meine Himmelshäscher auf diesen Coryn, töte ihn und lege Euch die Glut von Hoole zu Füßen. Das schwöre ich bei meiner Ehre.“
Die Wölfe verstummten vor Staunen.
„Ist das Euer Ernst, Oberste Mutter?“, vergewisserte sich der Clanführer.
„Oh ja! Bei meinem Magen.“
Gyllban hob die Pfote.
„Ja, Gyllban?“
„Könnte ich bitte den Redestab haben?“
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