Die Legende vom Weitseher 01 - Der Adept des Assassinen
unser Tun die Entfremdeten davor bewahrten, im Winter jämmerlich an Hunger oder Kälte zugrundezugehen. So kam es, daß ich mich an mein Handwerk gewöhnte und fast ein Dutzend Morde aufzuweisen hatte, bevor es sich fügte, daß ich einem Mann in die Augen sehen mußte und ihn dann töten.
Auch diese Tat kam mich weniger hart an, als ich gedacht hatte. Es handelte sich bei dem Betreffenden um einen kleinen Landedelmann aus der Gegend um Turlake. In einem Wutanfall hatte er die Tochter eines Dieners geschlagen, und seither war das Mädchen schwachsinnig. Die Kunde von diesem Vorfall gelangte auch nach Bocksburg, und König Listenreich runzelte unmutig die Brauen. Allerdings hatte der Baron den vollen Blutspreis gezahlt und der Diener durch die Annahme des Geldes das Recht verwirkt, vor dem königlichen Gerichtshof Klage zu führen. Doch einige Monate später kam eine Base des unglücklichen Mädchens an den Hof und bat um eine Privataudienz bei Listenreich.
Ich wurde geschickt, um den Wahrheitsgehalt ihrer Anschuldigungen zu prüfen, und sah, wie das Mädchen einem Hund gleich zu Füßen des Freiherrn sitzen mußte, überdies war sie gesegneten Leibes. Deshalb war es gar nicht schwer, als er mir in edlem Kristall Wein kredenzen ließ und um die neuesten Nachrichten vom Hof bat, bei passender Gelegenheit seinen Kelch ins Licht zu heben und sowohl das vortreffliche Gefäß als auch den Inhalt zu preisen. Einige Tage darauf verließ ich ihn, Auftrag ausgeführt, im Gepäck die Papiermuster, die ich Fedwren versprochen hatte, sowie die übermittelten Wünsche des Hausherrn für eine gute Heimreise. Persönlich könne der Herr Baron mich leider nicht verabschieden, er sei indisponiert. Ungefähr einen Monat später starb er, qualvoll, unter Krämpfen. Die Base nahm das Mädchen und ihr Kind bei sich auf. Bis zum heutigen Tag bereue ich nichts, weder die Tat, noch daß ich ihn zu diesem langsamen Sterben verurteilte.
Wenn ich nicht unterwegs war, um die Pest der Entfremdeten zu bekämpfen, wartete ich Prinz Veritas auf. Ich erinnere mich an das erste Mal, als ich mit einem Tablett die unendlich vielen Stufen hinaufstieg. Entgegen meiner Erwartung stand keine Wache vor der Tür zu des Prinzen Turmgemach. Als auf mein Klopfen keine Antwort erfolgte, trat ich leise ein. Veritas saß in einem Lehnstuhl am geöffneten Fenster. Eine vom Meer kommende sommerliche Brise wehte ins Zimmer. Es hätte ein gemütlicher Raum sein können, hell und luftig, statt dessen mutete er an wie eine Gefängniszelle. Neben dem Stuhl am Fenster ein kleiner Tisch, in Ecken und Winkeln hatten sich Staub und die zertretenen Reste von altem Binsenstroh angesammelt. Veritas saß zusammengesunken da, als schliefe er halb, nur daß ich die vibrierende Spannung fühlte, die von ihm ausgehend die Luft erfüllte. Sein Haar war struppig, an seinem Kinn wucherte ein Stoppelbart. Die Kleider schlotterten um seine abgemagerte Gestalt. Ich drückte mit dem Fuß die Tür ins Schloß und ging mit dem Tablett zum Tisch. Nachdem ich es abgesetzt hatte, blieb ich daneben stehen und wartete stumm. Es dauerte einige Minuten, dann kehrte er von dem Ort zurück, an dem er gewesen war. Ein Schatten seines früheren Lächelns huschte über sein Gesicht, als er zu mir aufblickte und dann das Tablett ansah. »Was ist das?«
»Frühstück, Herr. Jeder in der Burg hat schon vor Stunden gegessen, außer Euch.«
»Ich habe gegessen, Junge. Heute morgen ganz früh. Irgendeine gräßliche Fischsuppe. Man sollte den Koch dafür hängen. Niemand sollte seinen Tag mit einem Fischgericht beginnen müssen.« Er sprach langsam, umständlich, wie ein alter Mann, der sich der Tage seiner Jugend zu erinnern sucht.
»Das war gestern, Herr.« Ich deckte die Teller auf. Warmes Brot, mit Honig und Rosinen gebacken, kalter Braten, eine Schüssel Erdbeeren, zu diesen ein Kännchen Sahne. Von allem nur kleine Portionen, die Mahlzeit für ein Kind. Ich goß den dampfenden Tee in einen Becher. Er war reichlich mit Ingwer und Pfefferminz versetzt, um den herben Geschmack der Elfenrinde zu überdecken.
Veritas ließ den Blick über das Tablett wandern, dann schaute er mich an. »Chade gibt niemals auf, nicht wahr?« Dies in einem beiläufigen Ton, als wäre die Erwähnung von Chades Namen nichts Ungewöhnliches.
»Ihr müßt essen, wenn Ihr bei Kräften bleiben wollt«, meinte ich nüchtern.
»Wahrscheinlich.« Müde widmete er sich den Tellern und Schüsseln, als wären die liebevoll
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