Die Legende vom Weitseher 01 - Der Adept des Assassinen
mir jedoch zeigte, welche Zutaten er für die Tees ausgewählt hatte, vergaß ich meinen Mißmut vor Erschrecken über die Stärke der Stimulanzien.
Veritas erschien kaum noch in der Öffentlichkeit, Edel hingegen drängte sich mit wahrer Wonne in den Vordergrund. Im letzten Monat war er ständig von irgendwoher zurückgekommen oder nach irgendwohin aufgebrochen, und jede Kavalkade war glanzvoller und prächtiger als die zuvor. Ich hatte den Eindruck, daß er die Brautwerbung für seinen Bruder als Vorwand benutzte, sich selbst auszustaffieren wie einen Pfau. Es hieß, als Repräsentant des Königshauses müsse er diesen Aufwand betreiben, um seine Verhandlungspartner zu beeindrucken. Ich jedoch betrachtete diesen Pomp als Verschwendung von Geldmitteln, die besser in die Verteidigung geflossen wären. In Edels Abwesenheit fühlte ich mich erleichtert, denn seine Feindseligkeit mir gegenüber hatte sich noch gesteigert, und er fand zahllose subtile Methoden, mir das Leben schwerzumachen.
Bei den seltenen Begegnungen mit Veritas und dem König hatten beide Männer sorgenvoll und ausgebrannt gewirkt. Veritas insbesondere ging umher wie ein Schlafwandler. Wortkarg und geistesabwesend, nahm er nur einmal Notiz von mir, und da lächelte er müde und meinte, ich wäre gewachsen. Damit erschöpfte sich unsere Unterhaltung. Doch mir war aufgefallen, daß er aß wie ein Kranker, ohne Appetit. Brot und Fleisch ließ er liegen, als wäre ihm die Anstrengung des Kauens zu groß, statt dessen begnügte er sich mit Haferbrei und Suppen.
»Er macht übermäßig von der Gabe Gebrauch«, erklärte Chade. »Listenreich hat es mir gesagt. Das allein erklärt aber nicht den rapiden Kräfteverfall, die zunehmende Schwäche. Also gebe ich ihm Trünke und Elixiere und versuche zu erreichen, daß er schläft. Doch er kann nicht schlafen. Er darf nicht, sagt er, weil nur der Einsatz seiner ganzen Kraft ausreicht, die Steuerleute der Roten Korsaren zu blenden und ihren Kapitänen den Mut zu rauben. Deshalb erhebt er sich von seinem Bett und geht zu seinem Stuhl am Fenster, und dort sitzt er den ganzen Tag.«
»Und Galens Kordiale? Sind sie ihm keine Hilfe?« Wie sehr hoffte ich zu hören, daß Galens Elite sich als Fehlschlag erwiesen hatte.
Chade seufzte. »Ich vermute, er setzt sie ein, wie ich Brieftauben einsetzen würde. Er läßt sie zu den Türmen ›denken‹, damit sie den Soldaten Warnungen übermitteln und von ihnen erfahren, ob feindliche Schiffe gesichtet wurden. Aber die Sicherung der Küsten übernimmt er selbst. Andere, hat er mir gesagt, wären zu unerfahren, sie könnten sich denen verraten, die sie mit der Gabe beeinflussen wollen. Ich verstehe nichts davon, aber ich weiß, über kurz oder lang wird er einen Zusammenbruch erleiden. Ich bete, daß der Sommer bald zu Ende ist, daß die Winterstürme die Roten Korsaren zu den Inseln zurücktreiben. Gäbe es doch jemanden, ihn bei seinem Werk zu unterstützen. Ich fürchte, er verausgabt sich.«
Mir schienen seine Worte einen unausgesprochenen Vorwurf wegen meines schmählichen Versagens zu beinhalten. Gekränkt wandte ich mich ab und unternahm einen Rundgang durch das Zimmer, das nach meiner langen Abwesenheit fremd und doch vertraut wirkte. Die Gerätschaften für seine Kräutermedizin lagen wie immer überall verstreut. Schleichers Anwesenheit machte sich durch die übelriechenden Knochen in den Ecken bemerkbar. Auf mehreren Stühlen häuften sich Tafeln und Schriftrollen, diesmal anscheinend hauptsächlich Aufzeichnungen über die Uralten. Ich schaute genauer hin, fasziniert von den farbenprächtigen Illuminationen. Eine Tafel, älter und reicher ornamentiert als die übrigen, stellte einen Uralten als eine Art golden glänzendes Vogelwesen dar, mit einem menschenähnlichen Kopf und einer Federkrone. Ich bemühte mich, die Inschrift zu entziffern. Sie war in Piche abgefaßt, einer alten Sprache aus Chalced, der südlichsten Provinz. Viele der aufgemalten Siegel waren verblaßt oder abgeblättert, außerdem besaß ich nur geringfügige Kenntnisse in Piche. Chade trat zu mir.
»Es ist mir nicht leichtgefallen«, sagte er eindringlich, »aber ich habe mein Wort gehalten. Galen bestand darauf, von seinen Schülern jegliche äußeren Einflüsse fernzuhalten. Er machte ausdrücklich zur Bedingung, daß niemand mit dir Verbindung haben dürfe oder sich auf irgendeine Weise in deine Ausbildung einmische. Und, wie ich dir von Anfang an sagte, in der Königin Sommerfrische habe
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