Die Legende vom Weitseher 01 - Der Adept des Assassinen
Eifersucht auf deinen Bruder überwinden. Wie willst du den Feind besiegen, wenn du kein Vertrauen zu denen hast, die hinter dir stehen.«
»Genauso ist es«, sagte Veritas beherrscht. Er schob seinen Stuhl zurück.
»Wohin gehst du?« verlangte Listenreich aufgebracht zu wissen.
»An meine Pflicht«, antwortete Veritas kurz. »Wohin sonst konnte ich gehen?«
Trotz allem wirkte sein Vater einen Moment lang bestürzt. »Aber du hast kaum etwas gegessen ...« Er verstummte.
»Die Gabe tötet jeden anderen Hunger. Ihr wißt das.«
»Ja.« Listenreich schluckte. »Und ich weiß auch, daß der Hunger nach der Gabe einen Menschen nicht nährt.«
Beide schienen mich vollkommen vergessen zu haben. Ich machte mich klein und knabberte an meinem Keks wie eine Maus im Winkel.
»Aber was zählt schon ein Mann, wenn es um das Wohl des Königreichs geht.« Veritas gab sich keine Mühe, die Bitterkeit in seiner Stimme zu verbergen, und mir war klar, daß er nicht allein die Gabe meinte. »Schließlich«, fügte er mit schwerfälligem Sarkasmus hinzu, »ist es nicht so, als hättet Ihr nicht noch einen weiteren Sohn, um meinen Platz einzunehmen und die Krone zu tragen. Einen, der ungezeichnet von der Gabe ist. Einen, dem es freisteht zu werben, wo es ihm beliebt. Oder nicht beliebt.«
»Edel kann nichts dafür, daß er keine Gabe besitzt. Er war ein kränkliches Kind, zu schwach, um von Galen unterwiesen zu werden. Und wer konnte vorhersehen, daß zwei kundige Prinzen nicht genug sein würden.« Listenreich erhob sich gereizt und durchquerte das Zimmer. Am Fenster blieb er stehen und schaute auf das Meer hinaus. »Ich tue, was in meiner Macht steht, Sohn«, fügte er mit halblauter Stimme hinzu. »Glaubst du, es schmerzt mich nicht, wenn ich sehe, wie du dich aufreibst?«
Veritas seufzte schwer. »Nein. Ich weiß. Die Müdigkeit der Gabe spricht aus mir. Wenigstens einer von uns muß kühlen Kopf bewahren und versuchen, das Ganze zu sehen. Für mich gibt es nichts anderes als das Hinausdenken und dann das Ordnen, um den Navigator vom Steuermann zu unterscheiden, die geheimen Ängste zu wittern und die Hasenherzigen in der Besatzung zu finden, um bei ihnen den Hebel anzusetzen. Wenn ich schlafe, träume ich von ihnen, und wenn ich esse, stecken sie mir im Hals. Ihr wißt, ich habe nie Freude an der Gabe gehabt, Vater. Es erscheint mir eines Kriegers nicht würdig, in dem Bewußtsein eines anderen Menschen herumzuwühlen. Gebt mir ein Schwert, und ich werde mit der blanken Klinge bereitwillig seine Eingeweide erforschen. Lieber schlitze ich einem Mann den Bauch auf, als ihm die Bluthunde seines eigenen Verstandes auf den Hals zu hetzen.«
»Ich weiß, ich weiß«, meinte Listenreich sanft, aber ich bezweifelte, daß er wirklich begriff, was sein Sohn meinte. Ich hingegen konnte den Widerwillen verstehen, den Veritas für seine Aufgabe empfand. Irgendwie teilte ich ihn und konnte mich des Gefühls nicht erwehren, daß ihn sein Tun verunehrte. Doch als er mich ansah, war in meinem Gesicht und in meinen Augen nicht zu lesen, was ich dachte. Tief in meinem Innern nagte das Schuldgefühl, daß ich nicht fähig gewesen war, die Gabe zu lernen, und deshalb in dieser schweren Zeit meinem Onkel keinen Beistand leisten konnte. Ich fragte mich, ob er insgeheim erwog, sich noch einmal meiner Kraft zu bedienen. Der Gedanke jagte mir Angst ein, aber ich wappnete mich, um bereit zu sein. Doch Veritas schenkte mir nur ein gütiges, wenn auch geistesabwesendes Lächeln, als wäre er mit etwas ganz anderem beschäftigt. Offenbar betrachtete er das gemeinsame Frühstück als beendet, denn er erhob sich von seinem Platz. Auf dem Weg zur Tür strich er mir im Vorbeigehen über den Kopf wie einem Hund.
»Nimm meinen Leon mit ins Gelände und laß ihn meinetwegen Kaninchen jagen. Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich ihn jeden Tag allein lasse, aber sein kummervolles, stummes Flehen war eine zu große Ablenkung.«
Ich nickte. Die Gefühle, die ich von ihm spürte, überraschten mich – ein Schatten des gleichen Schmerzes, den ich empfunden hatte, als mir meine Hunde genommen wurden.
»Veritas.«
An der Tür drehte er sich zu Listenreich herum.
»Fast hätte ich vergessen, weshalb ich dich rufen ließ. Es ist natürlich die Bergprinzessin. Ketkin, glaube ich, heißt sie ...«
»Kettricken. Daran wenigstens erinnere ich mich. Ein mageres kleines Füllen, als ich sie das letzte Mal sah. So, auf sie ist also die Wahl gefallen?«
»Ja. Aus
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