Die Legende vom Weitseher 01 - Der Adept des Assassinen
einem anderen Zeitpunkt etwas dagegen einzuwenden gehabt«, bemerkte ich, und Rurisk warf den Kopf zurück und lachte.
»Das hätte von deinem Vater sein können. Aber ich muß erklären. Vor einigen Tagen kam sie, um mir zu sagen, du habest den Auftrag, mich zu ermorden. Ich antwortete, sie solle das meine Sorge sein lassen. Doch, wie bereits gesagt, sie ist impulsiv. Gestern sah sie eine Gelegenheit und ergriff sie beim Schopf. Ohne zu bedenken, welche Auswirkungen der Tod eines Gastes für eine nach langwierigen Verhandlungen zustandegekommene Vermählung haben könne. Sie trachtete nur danach, dich aus dem Weg zu räumen, bevor ihr Bund mit den Sechs Provinzen eine solche Tat undenkbar machte. Ich hätte Verdacht schöpfen sollen, als sie so plötzlich mit dir im Garten verschwand.«
»Die Kräuter, die sie mir zum Kosten gegeben hat?«
Er nickte, und ich kam mir vor wie ein Dummkopf. »Doch anschließend kamen ihr im Lauf eurer Unterhaltung Zweifel, ob du der Schurke warst, als den man dich geschildert hatte. Deshalb fragte sie dich, aber du bist ihr ausgewichen. Angeblich hättest du sie nicht verstanden. Was sollte sie davon halten? Trotzdem, sie hätte nicht die ganze Nacht warten dürfen, bis sie zu mir kam, um ihre Tat zu beichten. Dafür entschuldige ich mich.«
»Zu spät. Vergeben und vergessen«, hörte ich mich antworten.
Rurisk sah mich an. »Das war auch ein Ausspruch deines Vaters.« Er stand auf, als Kettricken hereinkam, schloß die Gattertür und nahm ihr das Tablett ab. »Setz dich hin«, forderte er sie barsch auf, »und sieh dir an, wie man mit einem Assassinen verfährt.« Er griff nach dem dampfenden Becher auf dem Tablett und trank einen großen Schluck, bevor er ihn an mich weiterreichte, mit einem vielsagenden Blick auf Kettricken. »Und falls das vergiftet war, hast du jetzt auch deinen Bruder auf dem Gewissen.« Er schnitt die Apfelpastete in drei Teile. »Wähle«, sagte er zu mir, zog das Stück zu sich heran und gab das zweite, auf das ich zeigte, seiner Schwester. »Damit du siehst, daß mit diesen Speisen alles seine Richtigkeit hat.«
»Welchen Sinn sollte es auch haben, mir heute morgen wieder Gift zu verabreichen, nachdem Ihr zuvor hereingekommen seid, um mir zu sagen, ich wäre gestern nachmittag vergiftet worden«, meinte ich. Trotzdem forschten meine Zunge und mein Gaumen nach dem geringsten verdächtigen Geschmack, aber vergebens. Es war eine üppige, knusprige Blätterteigpastete, gefüllt mit reifen Äpfeln und Gewürzen. Selbst wenn ich nicht solchen Hunger gehabt hätte, wäre sie köstlich gewesen.
»Genau«, stimmte Rurisk mit vollem Mund zu. »Und, falls du ein Assassine wärst« – hier warf er Kettricken einen scharfen Blick zu: schweig still – »fändest du dich in der gleichen Lage. Manche Morde sind nur gewinnbringend, wenn niemand weiß, daß es ein Mord war. Wie in meinem Fall. Würdest du mich jetzt töten, oder sterbe ich auch nur innerhalb der nächsten sechs Monate, würden Kettricken und Jonqui Zetermordio schreien, daß man mich hinterlistig ums Leben gebracht hat. Schwerlich eine gute Grundlage für ein Bündnis zwischen zwei Völkern, findest du nicht auch?«
Ich brachte ein Nicken zustande. Die warme Brühe in dem Becher hatte gegen das Zittern geholfen, und die Pastete war das reinste Labsal.
»Gut. Wir sind beide der Meinung, falls du ein Assassine wärst, hättest du in Anbetracht der Umstände keinen Vorteil mehr davon, mich zu ermorden. Tatsächlich wäre mein Tod für deinen Auftraggeber ein großer Nachteil, denn mein Vater betrachtet diese Allianz nicht mit dem gleichen Wohlwollen wie ich. Oh, er weiß, sie ist politisch klug. Doch ich betrachte sie als mehr als politisch klug. In meinen Augen ist sie notwendig für unser Überleben.
Berichte König Listenreich dies. Unsere Bevölkerung wächst, aber unsere Reserven an Ackerland sind begrenzt. Und die Jagd ernährt nur eine gewisse Anzahl Menschen. Unweigerlich kommt die Zeit, wenn ein Land sich nach außen öffnen muß, besonders ein so steiniges und gebirgiges Land wie das meine. Vielleicht hast du von dem Brauch gehört, daß bei uns der Herrscher der Diener seines Volkes ist? Nun, ich diene ihm auf folgende Weise – ich verheirate meine geliebte jüngere Schwester in die Fremde, in der Hoffnung, Korn und Handelswege und Waren aus den Flachlanden für mein Volk zu gewinnen und Weiderechte während der kalten Jahreszeit, wenn unsere Höhenwiesen von Schnee bedeckt sind. Um
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