Die Legende vom Weitseher 01 - Der Adept des Assassinen
sagte es mit Nachdruck. »Nun zu anderen Dingen. Hast du mich je zuvor gesehen?«
»Nein.« Flüchtig kam mir der Gedanke, wie merkwürdig das war. Zwar weilten häufig Gäste in der Burg, aber dieser Mann wohnte offenbar hier, und das schon lange. Und so gut wie alle Bewohner der Burg kannte ich vom Sehen, wenn nicht mit Namen.
»Weißt du, wer ich bin, mein Junge? Oder weshalb du hier bist?«
Jede Frage beantwortete ich mit einem Kopfschütteln. »Schön, auch sonst weiß das niemand, also gib acht, daß es dabei bleibt. Merke dir – du sprichst zu niemandem über das, was wir hier tun, und auch nicht über irgend etwas von dem, was du hier lernst. Hast du mich verstanden?«
Mein Nicken mußte ihn zufriedengestellt haben, denn er lehnte sich entspannt zurück. Seine Hände umfaßten die spitzen Knie unter dem wollenen Gewand. »Gut, gut. Du nennst mich Chade. Und wie nenne ich dich?« Er wartete, doch als ich keine Miene machte zu antworten, sprach er weiter. »Junge. Das wird genügen für die Zeit, die wir zusammen sind. Das wäre geklärt. Ich bin Chade, und sieh in mir nur einen weiteren Lehrer, den Listenreich dir bestimmt hat. Er brauchte eine Weile, um sich meiner Existenz zu entsinnen, und dann mußte er sich erst überwinden, an mich heranzutreten. Und ich brauchte noch länger, um mich zu entschließen, dich zu unterrichten. Aber das ist nun vorüber. Und was das Fach betrifft, in dem ich dich unterrichten werde – nun.«
Er stand auf, ging zum Kamin und starrte mit schiefgelegtem Kopf in die Flammen. Dann griff er nach dem Schürhaken und stocherte in den glosenden Scheiten, bis das Feuer wieder heller brannte. »Es geht um Mord, mehr oder weniger. Das Töten von Menschen. Die feine Kunst des politischen Meuchelmords. Manchmal sind andere Maßnahmen vorzuziehen. Das Augenlicht oder Gehör zerstören. Den Körper schwächen oder lähmen, ein zehrender Husten oder Impotenz. Oder vorzeitige Senilität oder Wahnsinn oder – aber genug. Das war mein Gewerbe. Und wird dein Gewerbe sein, wenn du willst. Nur sollst du von Anfang an wissen, daß ich dir beibringen werde, wie man Menschen tötet. Für den König. Nicht auf die pompöse Art, die Hod dich lehrt, nicht auf dem Schlachtfeld, wo andere es sehen und dich anfeuern. Nein. Ich werde dich in den unschönen, heimtückischen, zivilisierten Methoden des Tötens unterrichten. Entweder findest du Geschmack daran oder nicht, darauf habe ich keinen Einfluß. Aber ich werde dafür sorgen, daß du die Mittel und Wege kennst. Und ich werde noch etwas anderes sicherstellen, denn das gehört zu der Abmachung, die ich mit König Listenreich getroffen habe. Daß du weißt, was du lernst, im Gegensatz zu mir, als ich in deinem Alter war. Also. Ich werde dich zum Meuchelmörder ausbilden. Ist dir das recht, Junge?«
Ich nickte wieder, unsicher, aber ich wußte nicht, was sonst tun.
Er betrachtete mich aus schmalen Augen. »Du kannst sprechen, nicht wahr? Oder bist du nicht nur ein Bastard, sondern auch stumm?«
Ich schluckte. »Nein, Herr. Ich kann sprechen.«
»Ausgezeichnet, dann tu's auch. Erzähl mir, was du von all dem hältst. Davon, wer ich bin, und von dem Vorschlag, den ich dir gemacht habe.«
Zum Reden aufgefordert, blieb ich dennoch stumm. Ich starrte auf das pockennarbige Gesicht, die papierne Haut der Hände, und ich fühlte den kalten Smaragdglanz seiner Augen auf mir ruhen. In meinem Kopf drängten sich Worte, fanden aber nicht den Weg über meine Zunge. Seine Art weckte Vertrauen, doch sein Gesicht erschien mir immer noch furchteinflößender als alles andere, was ich mir vorstellen konnte.
»Junge«, sagte er, und die Sanftheit in seiner Stimme veranlaßte mich, ihm in die Augen zu sehen. »Ich kann dich unterrichten, auch wenn du mich haßt oder verabscheust, was du lernen sollst. Ich kann dich unterrichten, auch wenn du gleichgültig bist oder faul oder dumm. Aber ich kann dich nicht unterrichten, wenn du dich fürchtest, mit mir zu sprechen. Wenigstens nicht auf die Art, wie ich mir vorgenommen habe, dich zu unterrichten. Und es hat mit uns keinen Zweck, wenn du beschließt, daß du dieses Gewerbe lieber nicht erlernen möchtest. Aber du mußt es mir sagen. Du hast gelernt, deine Gedanken so gut zu verbergen, daß du beinahe selbst Angst hast, sie dir einzugestehen. Aber hab keine Scheu vor mir. Du wirst nicht bestraft werden.«
»Es gefällt mir nicht«, platzte ich zu meiner eigenen Überraschung heraus. »Daß ich Menschen töten
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