Die Legende vom Weitseher 01 - Der Adept des Assassinen
Chades politische Lektionen besser unterrichtet, als Burrich wissen konnte, doch ich biß mir auf die Zunge und lauschte geduldig seinen weitschweifigen Erklärungen. Nicht zum ersten Mal merkte ich, daß er mich für etwas begriffsstutzig hielt. Er deutete meine Schweigsamkeit als Mangel an Verstand und nicht als das Fehlen jeglichen Bedürfnisses zu sprechen.
Nach dieser Einleitung nahm Burrich die Mühe auf sich, mich umständlich in den Umgangsformen zu unterweisen, die, sagte er mir, die meisten anderen Kinder einfach durch Zusehen und Nachahmung lernten. Man grüßte, wen man an diesem Tag noch nicht getroffen hatte oder beim Betreten eines Zimmers, in dem sich Leute aufhielten. Man redete Leute mit Namen an, und wenn sie älter waren als ich oder von höherem Stand, also fast jeder, dem ich auf dieser Reise begegnen würde, auch mit dem Titel. Dann belehrte er mich über das Protokoll, zum Beispiel, wem ich beim Verlassen eines Raumes den Vortritt lassen mußte und bei welcher Gelegenheit. Dann das Kapitel Tischmanieren: aufpassen, welchen Platz man mir anwies, aufpassen, wer am Kopf dieser Tafel saß, und mich beim Essen nach dem Betreffenden richten; wie man bei Trinksprüchen Bescheid tat, ohne dabei das Maß zu verlieren. Und wie man mit seinem Tischnachbarn oder seiner Tischnachbarin wohlerzogen Konversation macht, beziehungsweise – für mich geziemender – aufmerksam zuhörte. Und so weiter. Und so weiter. Bis ich mich regelrecht danach sehnte, einen Berg Zaumzeug zu putzen.
Burrich ließ nicht zu, daß ich mich in Tagträumen verlor. Er stieß mir den Zeigefinger gegen die Schulter. »Und das gehört sich ebenfalls nicht. Du siehst aus wie ein Tropf, wenn du mit offenem Mund ins Leere starrst. Glaub nicht, es merkt niemand. Und zieh nicht so ein Gesicht, wenn man dich ermahnt, setz eine freundliche Miene auf. Kein albernes Grinsen, Schafskopf. Liebe Güte, Fitz, was soll ich bloß mit dir anfangen? Wie kann ich dich beschützen, wenn du dich selbst in Schwierigkeiten bringst? Und weshalb nimmt man dich mit auf diese Reise?«
Die beiden letzten Fragen, an ihn selbst gerichtet, verrieten seine wahre Sorge. Vielleicht war ich tatsächlich etwas schwer von Begriff, weil ich es nicht früher erkannt hatte. Ich verreiste. Ohne ihn. Aus keinem für ihn erkennbaren triftigen Grund. Burrich hatte lange genug in der Nähe des Königshofes gelebt, um sehr mißtrauisch geworden zu sein. Zum ersten Mal, seit man mich seiner Obhut übergeben hatte, verließ ich seinen Einflußbereich. Der Tod meines Vaters lag noch nicht weit zurück. Deshalb fragte er sich, auch wenn er es natürlich nicht auszusprechen wagte, ob ich wiederkommen würde oder ob jemand eine Gelegenheit herbeigeführt hatte, um mich heimlich, still und leise beiseite zu schaffen. Ich verstand, welch ein Schlag für seinen Stolz und sein Ansehen es wäre, falls ich plötzlich spurlos verschwand. Also seufzte ich und meinte, daß man vielleicht eine zusätzliche Hand bei den Pferden und Hunden brauchte. Veritas wurde auf allen Wegen von seinem Wolfshund Leon begleitet. Erst vor zwei Tagen hatte er mich gelobt, weil ich so gut mit ihm umzugehen verstand. Das erzählte ich Burrich, und es war herzerwärmend, die Wirkung dieser wahrscheinlich klingenden Vermutung zu beobachten. Erleichterung malte sich auf seinem Gesicht, dann Stolz, weil sein Schüler Ehre für ihn einlegte. Sofort kam statt höfischer Tischmanieren das Thema der Fütterung und Fellpflege bei Wolfshunden aufs Tapet. Wenn die Tiraden über Umgangsformen mich ermüdet hatten, diese alte Leier anhören zu müssen, war noch ärger. Als er mich entließ, weil meine anderen Lehrer warteten, konnte ich nicht schnell genug hinauskommen.
Den Rest des Tages brachte ich in einer Art gedankenverlorener Geistesabwesenheit zu, so daß Hod mir mit dem Stock drohte, falls ich nicht aufhörte zu träumen. Dann seufzte sie resigniert und meinte, ich solle mich davonmachen und wiederkommen, wenn ich fertig wäre mit meiner Wolkenschieberei. Ich gehorchte liebend gern. Der Gedanke, tatsächlich Bocksburg zu verlassen und eine Reise zu unternehmen, eine Reise bis nach Guthaven, verdrängte alles andere aus meinem Kopf.
Ich wußte, daß ich mich fragen sollte, weshalb man mich dabeihaben wollte, andererseits vertraute ich darauf, bald von Chade alles Nötige zu erfahren. Ob wir den Land- oder den Seeweg nahmen? Hätte ich doch Burrich gefragt. Die Straßen nach Guthaven waren nicht die besten, hörte
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