Die Legende vom Weitseher 02 - Des Königs Meuchelmörder
ein Geschenk.
»Es wäre mir eine Freude.«
Diese Worte schienen für alle ein Signal zu sein, das Turmdach zu verlassen. Ich machte den Schluß. Als ich die Tür hinter mir zugezogen hatte, wartete ich einen Moment, um meinen Augen Zeit zu geben, sich an die Dunkelheit im Turm zu gewöhnen. Unter mir sah ich die Flammen von Kerzen um die Treppenspindel wandern – gepriesen der Page, der daran gedacht hatte, sie zu besorgen. Langsam stieg ich Stufe um Stufe hinunter, mein ganzer Arm, von der Bißwunde in der Halsbeuge bis zu dem Schnitt von der Schwertklinge, klopfte unheilverkündend. Ich dachte daran, wie glücklich Kettricken war, und gönnte es ihr von Herzen, trotz meines schlechten Gewissens. Veritas war erleichtert gewesen, als ich vorschlug, Kettricken den Garten zu überlassen, aber die Geste hatte für ihn nicht die gleiche Bedeutung wie für Kettricken. Sie würde sich auf dieses Vorhaben stürzen, als baute sie einen Schrein für ihre Liebe. Veritas hingegen erinnerte sich wahrscheinlich schon morgen nicht mehr daran, ihr dieses Geschenk gemacht zu haben. Ein Verräter und ein Gimpel, beides durfte ich mir schmeicheln, in dieser Sache gewesen zu sein.
Mir war nicht nach Gesellschaft zumute, deshalb mied ich die Halle und ging zum Abendessen in die Wachstube neben der Küche. Dort saßen Burrich und Flink vor ihren Tellern. Als sie mich zu sich winkten, konnte ich nicht ablehnen, doch kaum hatte ich mich hingesetzt, war ich so gut wie vergessen. Nicht, daß sie mich aus ihrer Unterhaltung ausgeschlossen hätten, aber sie sprachen von einem Leben, von dem ich kein Teil mehr war. Die Vielfalt all dessen, was in den Ställen und Remisen vor sich ging, war für mich inzwischen eine Art Buch mit sieben Siegeln. Burrich und Flink erörterten Probleme mit der selbstbewußten Tüchtigkeit von Männern, die beide über ein gemeinsames, detailliertes Fachwissen verfügen. Immer häufiger ertappte ich mich dabei, wie ich zu ihren Worten nickte, aber selbst nichts zu sagen hatte. Sie kamen gut miteinander aus. Burrich sprach zu Flink nicht von oben herab, aber Flink verhehlte nicht seinen Respekt vor einem Mann, den er sichtlich als überlegen anerkannte. Flink hatte in kurzer Zeit viel von Burrich gelernt. Im letzten Herbst hatte er Bocksburg als einfacher Stallbursche verlassen, jetzt sprach er kundig von den Falken und Hunden und stellte fundierte Fragen bezüglich Burrichs Zuchtauswahl bei den Pferden. Ich war noch nicht mit dem Essen fertig, als sie aufstanden, um zu gehen. Sie wünschten mir einen guten Abend, und immer noch in ihr Gespräch vertieft, gingen sie aus der Tür.
Ich blieb nicht etwa allein in der Wachstube zurück. Um mich herum wurde gegessen und getrunken und geredet. Das Stimmengewirr, das Klappern der Löffel in den Schüsseln, das dumpfe Pochen, als jemand einen Keil vom Käserad schnitt, war wie Musik. Es roch nach Essen und Menschen, nach dem Holzfeuer und verschüttetem Ale und dem brodelnden Eintopf. Ich hätte mich zufrieden fühlen müssen, nicht ruhelos. Auch nicht niedergeschlagen. Oder einsam.
Bruder?
Ich komme. Warte auf mich am alten Schweinekoben.
Nachtauge schien weit von der Burg gejagt zu haben. Ich traf zuerst am verabredeten Platz ein, stand in der Dunkelheit und wartete auf ihn. In meinem Beutel hatte ich einen Topf Salbe, zu meinen Füßen lag ein Sack voller Knochen. Der Schnee wirbelte um mich herum, ein endloser Tanz von Winterfunken. Meine Blicke bohrten sich in die Nacht. Ich spürte ihn, seine Nähe, dennoch gelang es ihm, hervorzuspringen und mich zu überrumpeln. Er machte es gnädig – nur ein Zwicken und Schütteln meines unverletzten Handgelenks. Im Innern der Kate zündete ich eine Kerze an und untersuchte seine Schulter. Trotz meiner Müdigkeit am Abend zuvor und meiner eigenen Schmerzen hatte ich gute Arbeit geleistet, wie ich mit Befriedigung feststellte. Um die Verletzung herum hatte ich das Fell bis auf die Haut abgeschoren und den Einstich mit Schnee gesäubert. Es hatte sich eine dicke, dunkle Schorfkruste gebildet. Ich konnte sehen, daß die Wunde heute wieder geblutet hatte, aber nicht viel. Zur Sicherheit trug ich eine großzügige Schicht von meiner Salbe auf. Nachtauge zuckte einige Male, doch er ließ sich meine Behandlung geduldig gefallen. Anschließend wandte er den Kopf und beschnüffelte die Stelle.
Gänseschmalz, bemerkte er und begann daran zu lecken. Ich ließ ihn gewähren. Die Salbe konnte ihm nicht schaden, und seine Zunge
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