Die Legende vom Weitseher 02 - Des Königs Meuchelmörder
Zorn auf seinem Gesicht. Nicht ausgedrückt durch ein Stirnrunzeln oder eine finstere Miene, es waren nur zwei heißen Funken Glut in seinen dunklen Augen. »Sieh genauer hin, Burrich. Das ist kein Junge, der dort sitzt. Und denk noch einmal nach. Ich habe ihn nicht geschickt. Nicht allein. Ich war bei ihm, wir sind zusammen aufgebrochen, um zu kundschaften, nicht, um zu kämpfen. Es kam anders, doch er hat es überlebt. Wie ähnliche Situationen zuvor und mit etwas Glück auch in Zukunft.« Veritas erhob sich ruckartig. Die Atmosphäre im Zimmer erschien mir plötzlich mit Spannung aufgeladen, als läge ein Gewitter in der Luft. Auch Burrich schien es zu spüren, denn er warf mir einen kurzen Blick zu und zwang sich dann, stillzustehen wie ein Soldat beim Appell, während Veritas im Zimmer umherwanderte.
»Nein. Diese Arbeit ist nicht, was ich mir für ihn wünsche. Sie ist nicht, was ich mir für mich selbst wünschen würde. Wäre er doch in ruhigeren Zeiten geboren! Wäre er doch im Ehebett geboren worden und mein Bruder wäre noch Anwärter auf den Thron! Aber man läßt uns keine Wahl, weder ihm noch mir. Oder dir, Freund Burrich. Er tut seine Pflicht, wie wir alle. Verflucht, aber Kettrickens Ansicht ist die richtige. Der König ist der Diener des Volkes. Das gilt auch für seinen Neffen. Es war ein Gemetzel dort oben, ich weiß, wovon du sprichst. Ich sah Blade zur Seite gehen und sich übergeben, nachdem er einen Blick auf den Leichnam geworfen hatte; ich sah, wie er um Fitz einen Bogen machte. Wie der Junge – wie Fitz das überleben konnte, das übersteigt mein Vorstellungsvermögen. Indem er tat, was getan werden mußte, nehme ich an. Was also soll ich tun, Mann? Was soll ich tun? Ich kann nicht auf ihn verzichten. Ich brauche ihn. Ich brauche ihn für diesen häßlichen, heimlichen Krieg, denn er ist der einzige, der dazu fähig und ausgebildet ist. Aus demselben Grund schickt mein Vater mich in diesen Turm und verlangt von mir, mit hinterhältigem, unsauberem Töten meinen Verstand zu vergiften. Was immer Fitz tun muß, auf welche Fähigkeiten er zurückgreifen muß…« – mein Herz stand still, der Atem strömte mir wie Eis in die Lungen – »… lassen wir ihn gewähren. Weil es nur um eins geht, überleben. Weil…«
»Es ist mein Volk.« Erst als beide herumfuhren und mich anstarrten, merkte ich, daß ich laut gesprochen hatte. Plötzliche Stille im Raum. Ich holte tief Atem. »Vor langer Zeit hat mir ein alter Mann gesagt, ich würde eines Tages etwas begreifen. Er sagte, das Volk der Sechs Provinzen wäre mein Volk, es wäre mein Erbe, mich um sie zu sorgen, ihr Leid wie mein eigenes zu empfinden.« Ich blinzelte mehrmals, um das Bild von Chade und jenem Tag in Ingot zu vertreiben. »Er hatte recht. Sie haben heute mein Kind getötet, Burrich. Und meinen Schmied und zwei andere Männer. Nicht die Entfremdeten. Die Roten Korsaren. Und ich will ihr Blut für unseres, ich will sie von meiner Küste vertreiben. Es ist jetzt etwas, das ich tun muß.«
Über meinen Kopf hinweg trafen sich ihre Blicke. »Das Blut läßt sich nicht verleugnen«, bemerkte Veritas ruhig, aber die stolze Genugtuung in seiner Stimme wirkte auf mich wie Balsam und erfüllte mich mit einer tiefen Ruhe. Ich hatte heute das Richtige getan. Plötzlich gab es in mir nicht den geringsten Zweifel mehr. Häßliche, schmutzige Arbeit, aber ich mußte sie tun, und ich hatte sie gut getan. Für mein Volk. Ich sah zu Burrich hin, und er betrachtete mich mit dem sinnenden Blick, den er für gewöhnlich aufsetzte, wenn der Kümmerling eines Wurfs sich unerwartet gut herauszumachen versprach.
»Ich werde ihn den Umgang mit der Axt lehren«, versprach er Veritas. »Und noch einiges mehr. Sollen wir morgen anfangen, vor Tagesanbruch?«
»Wunderbar«, stimmte Veritas zu, bevor ich etwas einwenden konnte. »Nun wollen wir essen.«
Wie aufs Stichwort verspürte ich einen Bärenhunger. Ich stand auf und wollte zu dem von Charim gedeckten Tisch gehen, aber Burrich hielt mich zurück. »Wasch dir Gesicht und Hände, Fitz«, ermahnte er mich leise.
Das duftende Wasser in Veritas’ Becken war dunkel vom Blut des Schmieds, als ich mich aufrichtete und nach dem Handtuch griff.
KAPITEL 14
WINTERFEST
Das Winterfest feiert sowohl den dunkelsten Teil des Jahres als auch die Wiederkehr des Lichts. Während der ersten drei Tage ehren wir die Dunkelheit. Die Geschichten, die erzählt werden, und die Stücke der Puppenspieler berichten von
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