Die Legende vom Weitseher 02 - Des Königs Meuchelmörder
Genick brechen. Stark genug war er.
Nachtauge änderte seine Taktik. Er brachte die Kiefer nicht weit genug auseinander, um den Kopf des Mannes ins Maul zu nehmen, aber seine scharrenden Zähne fanden an der Kopfhaut Halt und rissen sie auf. Blut regnete auf mich hinunter, als der Entfremdete aufbrüllte und mit einer Hand nach seinem Peiniger schlug. Meine letzte Chance. Ich bäumte mich auf und wand mich wie ein Aal, bis ich mich weit genug herumgedreht hatte, um ihn das Knie zwischen die Beine zu rammen. Gleichzeitig stieß ich ihm das Messer in die Seite. Der Schmerz muß unvorstellbar gewesen sein, trotzdem ließ er mich nicht los, sondern schlug mir krachend die Stirn ins Gesicht, daß mir schwarz vor Augen wurde, dann schlang er seine gewaltigen Arme um meinen Oberkörper und schickte sich an, mir die Rippen zu zerquetschen.
Was dann geschah, daran habe ich keine deutliche Erinnerung mehr.
Vielleicht kam die Todesraserei über mich, von der manche Sagen berichten. Mit Zähnen, Nägeln und Messer setzte ich mich zur Wehr, verbiß und verkrallte mich in sein Fleisch und stieß die Klinge in seinen Leib, wann immer ich eine Blöße entdeckte. Dennoch, ich wäre unterlegen, hätte Nachtauge ihn nicht mit der gleichen tobsüchtigen Wut attackiert. Irgendwann kroch ich unter einem Toten hervor.
Alles in Ordnung? Nachtauge lag ein Stück von mir entfernt auf dem Boden und atmete hechelnd. Seine Schnauze, wie wahrscheinlich auch mein Gesicht, war blutverschmiert. Ich stand auf und ging ein, zwei Schritte auf ihn zu. Dann sah ich das Kind und sank neben dem Leichnam auf die Knie. Wohl erst in diesem Moment begriff ich, daß es von Anfang an zu spät gewesen war.
Sie war so winzig. Glattes, schwarzes Haar und dunkle Augen, der zarte Körper noch lebenswarm und schlaff. Ich nahm sie auf den Schoß und strich ihr das Haar aus der Stirn. Ein rundes Gesicht, ebenmäßige Zähnchen. Pausbacken. Der Tod hatte noch nicht seinen Schleier über ihre Augen gebreitet, verwundert blickten sie auf ein Rätsel jenseits allen Begreifens. An ihren kleinen, molligen Händen trocknete in Streifen das Blut, das aus den Bißwunden an ihren Armen geflossen war. Ein Kind – so schwach, so ausgeliefert, so angewiesen auf Fürsorge und Schutz. Schuldlos Opfer roher Brutalität. Ich neigte das Gesicht über ihr weiches Haar und weinte. Das Schluchzen schüttelte meinen Körper, und ich konnte nichts dagegen tun. Nachtauge schnüffelte an meiner Wange und winselte. Er scharrte mit der Pfote an meiner Schulter, und plötzlich wurde mir bewußt, daß ich ihn ausgeschlossen hatte. Ich streckte meine Hand nach ihm aus, um ihn zu beruhigen, doch es war mir unmöglich, ihn oder sonst etwas in mein Bewußtsein einzulassen. Er winselte erneut, und endlich hörte ich den Hufschlag. Nachtauge leckte mir einmal tröstend über die Wange, dann verschwand er zwischen den Bäumen.
Ich erhob mich taumelnd, das Kind an die Brust gedrückt. Die Reiter kamen über den Hügel, Veritas auf seinem Rappen, dahinter Burrich, Blade und ein halbes Dutzend weitere. Zu meiner Bestürzung sah ich hinter Blade eine Frau sitzen, eine Fremde, einfach gekleidet. Bei meinem Anblick stieß sie einen lauten Schrei aus, glitt blitzschnell zu Boden und kam auf mich zugelaufen, die Hände nach dem Kind ausgestreckt. Der Glanz von Hoffnung und Freude auf ihrem Gesicht war unerträglich. Für einen Sekundenbruchteil begegnete ich ihrem Blick und ich sah, wie das Begreifen ihre Züge verzerrte. Sie riß mir das kleine Mädchen aus den Armen, stützte das baumelnde Köpfchen, warf einen Blick in das wächserne Gesicht und begann zu schreien. Die Ungeheuerlichkeit ihres Schmerzes brach über mich herein wie eine Sturmflut und zog mich mit ihr in die Tiefe. Das Schreien hörte nicht auf.
Stunden später, in Veritas’ Arbeitszimmer, konnte ich es immer noch hören. Es vibrierte in mir, ein krampfartiges Beben, das mich in langen Wellen überlief. Ich saß nackt bis zur Taille auf einem Stuhl vor dem Kamin. Der Medikus schürte das Feuer, während hinter mir ein eisern schweigender Burrich Tannennadeln und Erde aus der tiefen Schmarre an meinem Hals wusch. »Das hier und das sind keine frischen Wunden«, bemerkte er einmal unfreundlich und zeigte auf die andere Verletzung an meinem Arm. Ich sagte nichts. Mir war, als hätte ich keine Worte mehr. In einem Becken mit heißem Wasser neben ihm schwammen getrocknete Irisblüten, die sich langsam entrollten, neben Heidegagel. Er
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