Die Legende vom Weitseher 02 - Des Königs Meuchelmörder
Abwesenheit und während ich mit anderen Dingen beschäftigt war, blieb König Listenreich nur sein Narr, um ihn zu beschützen. Aber wann hätte König Listenreich je zuvor einen Beschützer gebraucht? Immer schien der alte Mann fähig zu sein, sich durch eigene Kraft und Schläue zu behaupten. Ich warf mir vor, Chade nicht mit größerer Bestimmtheit auf die Veränderungen hingewiesen zu haben, die mir nach meiner Rückkehr aus dem Bergreich aufgefallen waren. Ich hätte besser über meinen Souverän wachen müssen.
»Wie hat er sich hier Zutritt verschafft?« wollte Edel plötzlich wissen, während er mich mit seinem funkelnden Blick an der Wand festzuspießen versuchte.
»Mein Prinz, er hatte ein Pfand des Königs, behauptete er. Er sagte, der König hätte versprochen, ihn unter welchen Umständen auch immer zu empfangen, wenn er nur diese Nadel vorzeigte…«
»Unsinn! Und du bist auf dieses Gefasel hereingefallen…«
»Prinz Edel, Ihr wißt, es ist die Wahrheit. Ihr wart dabei, als König Listenreich sie mir gab.« Ich sprach ruhig, aber mit fester Stimme. Veritas in meinem Kopf verhielt sich still – schweigender Nutznießer meiner Bedrängnis, dachte ich bitter und bemühte mich gleich darauf, den Gedanken zurückzuholen.
Mit gebührender Behutsamkeit, um die beiden Schoßhunde nicht zu beunruhigen, löste ich ein Handgelenk aus der Umklammerung einer klobigen Faust, schlug den Kragen meines Wamses um, zog die Nadel heraus und hielt sie hoch.
»Ich erinnere mich an nichts dergleichen«, fuhr Edel mich an, aber Listenreich war aufmerksam geworden.
»Komm her, Junge«, forderte er mich auf. Jetzt konnte ich es wagen, mich von meinen Bewachern freizumachen, strich mir das Haar zurück und richtete meine Kleidung. Dann trat ich zum Bett und zeigte dem König die Nadel. Er nahm sie mir aus der Hand. Mir sank der Mut.
»Herr Vater, das ist…« wollte Edel sofort Einwände erheben, aber Listenreich ließ ihn nicht ausreden.
»Edel, du warst dabei. Du erinnerst dich, oder du solltest dich erinnern.« Die dunklen Augen des Königs waren so wach und klar wie in der Zeit seiner ungebrochenen Kraft, deutlich erkennbar aber auch die Spuren des Leidens auf seiner gefurchten Zügen. König Listenreich kämpfte um diesen lichten Moment. Er hielt die Nadel hoch und musterte Edel mit einem Schatten seines alten berechnenden Blicks. »Ich habe dem Jungen die Nadel gegeben. Und mein Wort, im Tausch für das seine.«
»Dann schlage ich vor, daß Ihr beides wieder zurücknehmt, die Nadel und Euer Wort. Ihr werdet nie genesen, wenn man immer wieder leichtfertig Eure Ruhe stört.« Wieder diese befehlende Schärfe in Edels Worten. Ich wartete schweigend.
Der König strich sich mit einer zitternden Hand über Gesicht und Augen. »Dein Vorschlag ist nicht ehrenhaft«, widersprach er unbeirrt, aber seine Stimme klang schon weniger kräftig. »Einmal gegeben, kann ein Mann sein Wort nicht mehr zurücknehmen. Habe ich recht, FitzChivalric? Bist du auch der Meinung, daß ein Mann sein gegebenes Wort nicht mehr zurücknehmen darf?« Der Ton war der unserer alten rituellen Frage.
»Wie immer, mein König, stimme ich Euch zu. Hat ein Mann sein Wort gegeben, darf er es nicht zurücknehmen. Er muß halten, was er versprochen hat.«
»Nun gut. Das ist entschieden. Alles ist entschieden.« Er überreichte mir die Nadel. Ich schloß die Faust darum, meine Erleichterung war so überwältigend, daß mir schwindelig wurde. Aber nicht nur deshalb – ich kannte diese Kissen, dieses Bett. Dort hatte ich gelegen und mit dem Narren dem Überfall auf Syltport zugesehen. Am Feuer in jenem Kamin hatte ich mir die Finger verbrannt…
Der König stieß einen Seufzer der Erschöpfung aus. Seine Kraft war verbraucht. Er versank langsam wieder in einen Dämmerzustand, um von dort in den Schlaf hinüberzugleiten.
»Verbietet ihm zu kommen und Euch zu stören, außer Ihr laßt ihn rufen«, äußerte Edel gebieterisch. König Listenreich schlug noch einmal die Augen auf. »Fitz. Komm her, Junge.«
Wie ein Hund folgte ich der Aufforderung und kniete neben seinem Bett nieder. Er hob eine magere Hand und streichelte mir ungeschickt über den Kopf. »Du und ich, Junge, wir haben eine Vereinbarung, nicht wahr?« Eine ernstgemeinte Frage. Ich nickte. »Gut, mein Junge. Gut. Ich habe mein Wort gehalten. Sieh zu, daß du deines hältst. Aber« – daß er dabei einen Blick auf Edel warf, schmerzte mich – »es wäre besser, du kämst an den
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