Die Legende vom Weitseher 02 - Des Königs Meuchelmörder
konnte ich sie über ihre Handarbeiten gebeugt sitzen sehen. Königin Kettricken neigte den Kopf zu Rosemarie hinunter. Dann erhob sie sich und kam zu mir. Als sie vor mir stand, konnte ich erst den Blick nicht von ihr abwenden. Das Blau ihres Gewandes vertiefte das Blau ihrer Augen. Im Spätherbstlicht, das den Weg durch die Butzenscheiben fand, schimmerte ihr Haar tiefgolden. Als mir bewußt wurde, daß ich sie anstarrte wie ein Tor, schlug ich sofort die Augen nieder, stand von dem Stuhl auf und verneigte mich. Sie wartete nicht, bis ich mich aufgerichtet hatte. »Hast du kürzlich dem König einen Besuch abgestattet?« fragte sie mich ohne Einleitung.
»Nicht in den letzten Tagen, Hoheit.«
»Dann empfehle ich dir, heute abend zu ihm zu gehen. Ich bin in Sorge um ihn.«
»Wie Ihr wünscht, Hoheit.« Ich wartete. Bestimmt hatte sie mich nicht deswegen rufen lassen.
Nach einem Moment seufzte sie. »Fitz, ich bin hier so einsam wie nie zuvor in meinem Leben. Kannst du mich nicht Kettricken nennen und mit mir reden, als wäre ich einfach nur ein Mensch?«
Dieses plötzlich Angebot der Vertraulichkeit brachte mich aus dem Gleichgewicht. »Gewiß«, antwortete ich, aber es klang nicht überzeugt.
Gefahr, raunte Nachtauge.
Gefahr? Wieso?
Sie ist nicht deine Gefährtin. Sie ist die Gefährtin des Rudelführers.
Als hätte ich mit der Zunge einen schmerzenden Zahn berührt, so stechend durchzuckte mich die Erkenntnis. Hier drohte eine Gefahr, vor der man auf der Hut sein mußte. Dies war meine Königin, aber ich war nicht Veritas, und sie war nicht meine Geliebte, auch wenn mein Herz noch so heftig schlug bei ihrem Anblick.
Aber sie war meine Freundin. Im Bergreich hatte sie es bewiesen. Ich schuldete ihr den Trost, auf den ein Freund ein Anrecht hat.
»Ich will dir erzählen, was geschehen ist, als ich den König aufgesucht habe.« Sie forderte mich zum Sitzen auf und nahm selbst auf einem Stuhl Platz. Rosemarie holte ihren Schemel, um sich zu Kettrickens Füßen niederzulassen. Obwohl wir allein im Zimmer waren, sprach die Königin mit gedämpfter Stimme: »Ich fragte ihn ganz offen, weshalb ich nicht vom Eintreffen des Boten unterrichtet worden wäre. Meine Frage schien ihn zu verwirren, doch bevor er etwas sagen konnte, kam Edel herein. Ihm war anzusehen, daß er sich beeilt hatte. Als wäre jemand mit der Neuigkeit zu ihm gelaufen, und er hätte alles stehen- und liegenlassen, damit ihm ja nichts entgeht.«
Ich nickte wissend.
»Er machte es mir unmöglich, mit dem König zu sprechen. In scheinbar bester Absicht begann er, mir alles zu erklären. Er behauptete, der Reiter wäre stehenden Fußes in die Gemächer des Königs gebracht worden, und dort hätte er ihn angetroffen, als er seinen Vater besuchen wollte. Während der Bote nach unten ging, um sich auszuruhen, hätten er und der König die Lage besprochen und wären gemeinsam zu dem Schluß gekommen, daß nichts mehr unternommen werden könne. Dann hätte Listenreich ihn beauftragt, diesen Beschluß dem Boten und den versammelten Edlen mitzuteilen und sie über den Zustand der Staatsfinanzen in Kenntnis zu setzen. Wenn man Edel Glauben schenken kann, stehen wir am Rand des Ruins und müssen jeden Heller zweimal umdrehen. Bearns müsse lernen, sich selbst zu helfen, meinte er, und als ich ihn fragte, seit wann Bearns nicht mehr zu den Sechs Provinzen gehöre, antwortete er mir, Bearns wäre immer mehr oder weniger eigenständig gewesen. Es wäre unvernünftig, sagte er, zu erwarten, wir könnten von hier aus eine so weit nördlich von uns gelegene Küste beschützen. Fitz, hast du gewußt, daß die Nahen Inseln bereits an die Korsaren gefallen sind?«
Ich sprang auf. »Das kann unmöglich wahr sein.«
»Edel behauptet es«, fuhr Kettricken ruhig fort. »Er sagt, vor seinem Aufbruch hätte Veritas noch geäußert, es bestünde kaum Hoffnung, sie gegen die Korsaren halten zu können. Das wäre der Grund, weshalb er die Constance zurückgerufen hätte. Er soll Carrod, dem Gabenkundigen an Bord, die Order übermittelt haben, zu Reparaturarbeiten den Heimathafen anzulaufen.«
»Das Schiff ist nach der Ernte erst überholt worden, dann erhielt es den Auftrag, die Küste zwischen der Robbenbucht und Skua zu patrouillieren und sich bereitzuhalten, falls die Nahen Inseln Gefahr signalisieren. Das entsprach dem Wunsch des Kapitäns – mehr Zeit, um die Besatzung unter winterlichen Bedingungen zu schulen. Veritas würde niemals diesen Küstenstreifen
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