Die Legende vom Weitseher 02 - Des Königs Meuchelmörder
daß die fortdauernde Anwesenheit des Herzogs in unserer Halle für sein Gefolge ein unübersehbarer Hinweis darauf war, daß der König noch nicht geruht hatte, ihn zu empfangen. Ich beobachtete, wie der Kessel langsam anfing zu sieden, und fragte mich, wer den größten Schwall abbekommen würde, wenn er schließlich überkochte. Ich unternahm meinen vierten unauffälligen Rundgang durch die große Halle, als Kettricken erschien. Sie war einfach gekleidet, in ein langes, glattes purpurfarbenes Gewand mit einem weißen Überkleid. Das Haar fiel ihr offen auf die Schultern. Sie betrat die Halle ohne jedes Zeremoniell, gefolgt nur von Rosemarie, ihrer kleinen Zofe, und den Frauen Lady Modeste und Lady Hoffnungsfroh. Auch jetzt noch, nachdem ihr Verhältnis zu den Hofdamen besser geworden war, dachte sie daran, daß es während ihrer ersten, einsamen Zeit in Bocksburg nur diese beiden nicht für unter ihrer Würde gefunden hatten, der fremdländischen Gemahlin des Königs-zur-Rechten den gebührenden Respekt zu erweisen, und zeichnete sie häufig dadurch aus, daß sie sich von ihnen begleiten ließ. Ich glaube nicht, daß Herzog Brawndy in der schlicht gekleideten Frau, die auf ihn zukam, seine Königin-zur-Rechten erkannte.
Sie lächelte und ergriff zum Willkommen seine Hand – die Art der Bergbewohner, einen Freund zu begrüßen. Ich bezweifle, daß ihr bewußt war, welche Ehre sie ihm dadurch erwies oder wie sehr diese arglose Geste dazu beitrug, seinen Groll über das lange Warten zu mindern. Ohne es zu ahnen, hatte sie damit auch Fideas und Zeleritas Herz gewonnen. Bestimmt bemerkte niemand außer mir die Müdigkeit in ihrem Gesicht oder die dunklen Ringe unter ihren Augen. Kettrickens klare Stimme trug durch die große Halle, so daß ihre Worte bis in den letzten Winkel zu verstehen war. Ihrer Absicht entsprechend.
»Ich bin im Lauf des Vormittags zweimal bei seiner Majestät gewesen und bedaure, daß er beide Male nicht – wohl gewesen ist. Hoffentlich habt Ihr das lange Warten nicht allzu ermüdend gefunden. Ich weiß, Ihr wollt mit Eurem König über die Tragödie von Holüber sprechen und über die Maßnahmen, die getroffen werden müssen, um der Bevölkerung zu helfen. Doch in der Zwischenzeit, während er ruht, dachte ich, Ihr möchtet mir vielleicht bei einer kleinen Erfrischung Gesellschaft leisten.«
»Es wäre uns eine Ehre, Hoheit«, erwiderte Bearns, »meinen Töchtern und mir.« Es war ihr bereits gelungen, sein gesträubtes Gefieder einigermaßen zu glätten, doch Brawndy war nicht ein Mann, der sich so ohne weiteres besänftigen ließ.
»Das freut mich.« Kettricken neigte sich zu Rosemarie hinunter und flüsterte ihr etwas zu. Die Kleine nickte eifrig und flitzte davon wie ein Kaninchen. Alle im Raum wurden aufmerksam. Im Nu war sie zurück, an der Spitze einer Prozession von Dienern. Ein Tisch wurde geholt und, vor den mittleren Kamin gestellt, ein schneeweißes Tuch darübergebreitet und einer von Kettrickens Glaskugelgärten in die Mitte gesetzt. Diesen Vorbereitungen folgte der Auftritt einer langen Reihe von Küchenhelfern, die Teller brachten, Becher, Wein, Konfekt, Herbstäpfel in einer hölzernen Schale. Es gemahnte an Zauberei. In wenigen Augenblicken war der Tisch gedeckt, die Gäste hatten ihre Plätze eingenommen, und Samten mit seiner Laute betrat singend den Saal. Kettricken winkte ihre Frauen zu sich, und als sie meiner ansichtig wurde, forderte sie auch mich mit einem Kopfnicken auf, an den Tisch zu kommen.
Anschließend rief sie Leute von den Kaminen links und rechts heran, nicht nach Adel oder Reichtum ausgewählt, sondern wen sie für interessant hielt: Schäfter, den Pfeilschnitzer, mit seinen Geschichten von der Jagd zum Beispiel, und Mussel, ein freundliches Mädchen im Alter von Brawndys Töchtern. Brawndy saß zur Rechten Kettrickens, und wieder glaubte ich nicht, daß ihr bewußt war, wie sehr sie ihn auszeichnete.
Nachdem sich bei Speise und Trank und Geplauder die Stimmung etwas gelockert hatte, bedeutete sie Samten, leiser zu spielen, und wandte sich an Brawndy. »Wir haben nur sehr spärliche Nachrichten von Eurem Unglück erhalten. Wollt Ihr Uns berichten, was in Holüber geschehen ist?«
Der Herzog zögerte. Er hatte seine Sache dem König vortragen wollen, doch wie konnte er sich dem Wunsch seiner Königin-zur-Rechten widersetzen, die ihn so zu ehren wußte? Als er zu sprechen begann, war seine Stimme heiser vor innerer Erregung. »Hoheit, wir haben großes
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