Die Legende vom Weitseher 02 - Des Königs Meuchelmörder
Bruchteil einer Sekunde erblickte ich Veritas, wie König Listenreich ihn immer noch sah. Ein pummeliger Knabe von acht oder neun Jahren, mehr freundlich als klug, nicht das Format seines älteren Bruders Chivalric. Aber ein brauchbarer, liebenswerter Prinz, ein ausgezeichneter zweiter Sohn, nicht zu ehrgeizig oder kritisch. Dann, als hätte ich einen letzten Halt verloren, trieb ich hilflos in den schwarzen, brausenden Fluten der Gabe. Es war verwirrend, plötzlich durch Listenreichs Augen zu sehen. Die Ränder seines Gesichtsfelds waren getrübt. Ich sah Veritas, der sich mühsam einen Weg durch hohen Schnee bahnte. Was ist das? Fitz? Dann wurde ich fortgeschwemmt in den Feuerofen von Königs Listenreichs Qual, über die Grenze hinaus, wo die Essenzen und das Glimmkraut ihn betäubten. Es war ein langsam sich ausdehnender Schmerz, entlang seiner Wirbelsäule und in seinem Kopf, ein grausamer Dämon, der niemals seinen Griff lockerte. Er hatte nur die Wahl, von der Pein verzehrt zu werden, die ihm nicht erlaubte, klar zu denken, oder seinen Körper und Geist mit Drogen unempfindlich zu machen, sich dahinter zu verbergen. Doch hinter den Schleiern lebte noch ein König und wütete gegen seine Beschränkungen. Der Geist war noch da und rang mit dem Fleisch, das ihm nicht mehr gehorchte, und mit dem Schmerz, der die letzten Jahre seines Daseins vergiftete. Ich schwöre, ich sah ihn, einen jungen Mann, vielleicht ein Jahr älter als ich. Sein Haar war so buschig und störrisch wie das von Veritas, seine Augen blitzten, und einst stammten die einzigen Falten in seinem Gesicht von einem breiten Grinsen. Das war er noch, in seiner Seele, dieser junge Mann, gefangen und verzweifelt. Er packte mich und fragte wild: »Gibt es einen Weg hinaus?« Sein Griff zog mich mit in die Tiefe.
Dann, wie zwei Flüsse, die zusammenströmen, prallte eine andere Macht gegen mich und zog mich in einen Strudel. Junge! Du darfst dich nicht verlieren. Es war, als ob starke Hände mich stützten und mich als eigenen Strang in das Geflecht unserer Dreiheit einfügte. Vater, ich bin hier. Bist du in Not?
Nein. Nein. Es hat sich nichts Wesentliches verändert. Aber, Veritas…
Ja. Ich höre dich.
Bearns ist nicht länger loyal. Brawndy gewährt Roten Schiffen Unterschlupf im Austausch dafür, daß seine Küste vor Überfällen verschont bleibt. Er hat sich gegen uns gewendet. Wenn du zurückkehrst, muß du…
Der Gedanke schweifte ab, verschwamm.
Vater? Woher diese Nachrichten? Ich spürte Veritas’ plötzliche Erregung. Wenn es stimmte, was Listenreich behauptete, konnte Bocksburg nicht hoffen, den Winter zu überstehen.
Edel hat Spione. Sie bringen ihm Informationen, und er kommt damit zu mir. Dies muß ein Geheimnis bleiben, vorläufig, bis wir stark genug sind, um gegen Brawndy loszuschlagen. Oder bis wir uns entscheiden, ihn seinen Freunden von den Roten Schiffen zu überlassen. Ja. Das ist Edels Plan. Die Korsaren von unserer Provinz fernzuhalten, damit sie sich an Brawndy schadlos halten und uns die Mühe abnehmen, ihn zu strafen. Brawndy hat uns sogar einen falschen Hilferuf gesandt, in der Hoffnung, unser Kriegsschiff ins Verderben zu locken.
Ist das wirklich wahr?
Alle Spione Edels bestätigen es. Und ich fürchte, wir können deiner fremdländischen Gemahlin nicht mehr vertrauen. Edel hat beobachtet, wie sie Brawndy während seines Aufenthalts große Aufmerksamkeit gewidmet hat und Gelegenheit zu schaffen wußte, um insgeheim mit ihm zu reden. Er fürchtet, daß sie sich mit unseren Feinden gegen uns verschworen hat.
DAS IST NICHT WAHR! Die Gewalt seines Protests durchdrang mich wie ein Schwertstoß. Für einen Augenblick verlor ich wieder das Bewußtsein meiner selbst, versank, verging im Strom der Gabe. Veritas spürte es, gab mir Halt. Wir müssen auf den Jungen Rücksicht nehmen. Er ist nicht stark genug, um uns beiden als Born zu dienen. Vater, ich bitte dich, hab Vertrauen zu meiner Königin. Ich weiß, sie ist nicht falsch. Und sei mißtrauisch gegenüber dem, was Edels Spione melden. Laß sie von deinen eigenen Spionen überprüfen, bevor du auf ihre Berichte hin etwas unternimmt. Berate dich mit Chade. Versprich mir das.
Ich bin kein Tor, Veritas. Ich weiß, was ich tun muß, um meinen Thron zu bewahren.
Gut. Dann ist es gut. Sorge dafür, daß man sich um den Jungen kümmert. Er ist hierfür nicht ausgebildet.
In diesem Moment riß jemand meine Hand zurück wie von einem glühenden Ofen. Ich sank nach vorn, bis
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