Die Legende vom Weitseher 02 - Des Königs Meuchelmörder
damit gibt er nicht nur zu, daß Edel sich gegen ihn wendet, sondern daß ihm nichts anderes übrigbleibt, als sein Heil in der Flucht zu suchen. Unser König ist nie ein Feigling gewesen. Es kommt ihn hart an, nun vor einem weichen zu müssen, der von Rechts wegen die Stütze seines Alters sein sollte. Und doch geht es nicht anders. Es ist mir gelungen, ihn davon zu überzeugen, wobei mir, ich gebe es zu, Kettrickens Kind als Argument gedient hat. Ich habe ihm gesagt, ohne daß er es als legitimen Sproß der Weitseher anerkennt, hätte es nur einen unsicheren Anspruch auf den Thron.« Chade seufzte. »Alles ist so gut vorbereitet wie nur möglich, auch die Medizinen habe ich zusammengestellt und eingepackt.«
»Der Narr sieht ein, daß er den König nicht begleiten kann?«
Chade massierte sich die Stirn. »Er will ihnen folgen, in ein paar Tagen Abstand. Ganz hat er es sich nicht ausreden lassen, aber wenigstens konnte ich ihn dazu bringen, getrennt von ihnen zu reisen.«
»Dann ist es nur noch an mir, eine Möglichkeit zu finden, mögliche Zeugen aus dem Gemach des Königs zu entfernen, und an dir, ihn wie durch Zauberei verschwinden zu lassen.«
»Du sagst es«, nickte Chade freudlos. »Die Vorbereitungen sind abgeschlossen. Jetzt bleibt nur noch, den Plan in die Tat umzusetzen.«
Wir starrten beide schweigend ins Feuer.
KAPITEL 29
FLUCHT UND GEFANGENNAHME
Der Ausbruch von Feindseligkeiten zwischen den Inland- und Küstenprovinzen am Ende von König Listenreichs Regierungszeit war keine neue Entwicklung, vielmehr ein Wiederaufleben alter Konflikte. Die vier Küstenprovinzen Bearns, Bockland, Rippon und Shoaks waren ein Königreich, lange hervor es zum Bund der Sechs Provinzen kam. Als die koordinierte Verteidigungsstrategie der Chalced-Staaten König Herrscher überzeugte, daß ihre Eroberung in Anbetracht der zu erwartenden Verluste nicht lohnte, richtete er den begehrlichen Blick landeinwärts. Die Farrowregion mit ihrer Bevölkerung aus verstreuten Nomadenstämmen war leichte Beute für seine wohlorganisierten Truppen. Das dichter besiedelte Tilth mit Städten und Dörfern ergab sich widerwillig, als der damalige König des Landes feststellen mußte, daß sein Reich eingeschlossen war und er von seinen Handelswegen abgeschnitten.
Sowohl das alte Königreich Tilth als auch das Gebiet, das man später als Farrow kannte, behielten für mehr als eine Generation den Status eroberten Territoriums. Der Reichtum ihrer Kornfelder, Obsthaine und Herden wurde zum Nutzen der Küstenprovinzen rücksichtslos ausgebeutet. Königin Largesse, Enkeltochter von Herrscher, war klug genug zu erkennen, daß die Unzufriedenheit in den Inlandgebieten über kurz oder lang zu Aufständen führen würde. Sie erwies sich als eine tolerante und weitblickende Herrscherin, indem sie die Stammesältesten aus Farrow und die ehemals regierenden Familien aus Tilth der Aristokratie ihres Reiches einverleibte. Mittels Heiraten und Vergabe von Lehen schuf sie Bindungen zwischen den Bewohnern der Küste und den Binnenländern. Sie war die erste, die ihr Königreich die ›Sechs Provinzen‹ nannte. Doch all ihre politischen Schachzüge vermochten nichts an den geographischen und ökonomischen Fakten zu ändern. Die fruchtbaren Inlandprovinzen mit ihrem milderen Klima und die rauhe Küstenregion brachten einen unterschiedlichen Menschenschlag hervor, unterschiedliche Kulturen und Lebensweisen, zwischen denen sich keine tragfähige Brücke schlagen ließ.
Während Listenreichs Regierungszeit manifestierten sich die Unterschiede zwischen den vier und den zwei Provinzen in den Nachkommen seiner zwei Königinnen. Seine älteren Söhne, Veritas und Chivalric, stammten von Königin Constance, einer Edelfrau aus Shoaks, mit verwandtschaftlichen Banden auch in der Aristokratie von Bearns. Sie war ganz und gar im Küstenvolk verwurzelt. Listenreichs zweite Gemahlin, Desideria, kam aus Farrow, verfolgte ihren Stammbaum aber zurück bis zu der alten Monarchie von Tilth und weiter bis zu vagen Verbindungen mit den Weitsehern in einer nebelhaften Vergangenheit. Daraus resultierte ihre oft wiederholte Behauptung, ihr Sohn Edel sei von königlicherem Blut als seine beiden Halbbrüder und hätte deshalb größere Ansprüche auf den Thron.
Nach dem Verschwinden von König-zur-Rechten Veritas und Gerüchten um seinen Tod und angesichts der zunehmenden Hinfälligkeit von König Listenreich hatte es für die Küstenprovinzen den Anschein, daß Macht und
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