Die Legende vom Weitseher 02 - Des Königs Meuchelmörder
außer den Wachen, hörte es. Als Junge war ich hier unten herumgestromert. Ich hatte nur selten eine der Zellen besetzt gefunden und noch seltener jemanden, der Wache hielt. Dank Bocksburgs schneller Rechtsprechung gab es kaum jemals Grund, einen Gefangenen länger als ein paar Stunden festzuhalten. Gesetzesüberschreitungen wurden gewöhnlich mit dem Tod geahndet, oder man mußte die Tat mit seiner Hände Arbeit abbüßen. Ich nahm an, daß es unter Edels Herrschaft hier unten lebhafter zugehen würde.
Ich versuchte zu schlafen, aber die Flucht ins Vergessen blieb mir verwehrt. Also rutschte ich auf der harten Unterlage herum und dachte nach. Eine Zeitlang versuchte ich mir einzureden, ich hätte gewonnen, weil der Königin offenbar die Flucht gelungen war. Gewinnen hieß doch, daß man bekam, was man wollte, oder nicht? Bevor ich übermütig werden konnte, stieg in mir ungebeten die Erinnerung auf, wie schnell König Listenreich gestorben war. Von einem Augenblick zum anderen. Wenn sie mich hängten, ob es auch bei mir so schnell ging? Oder würde ich lange zucken und zappeln? Um mich von diesen Gedanken abzulenken, beschäftigte ich mich damit, ob es wohl einen Bürgerkrieg geben würde, bis Veritas die Sechs Provinzen wieder mit Berechtigung als die Sechs Provinzen in eine Karte eintragen konnte.
Selbstverständlich vorausgesetzt, daß Veritas zurückkehrte und es ihm gelang, die Küste von den Roten Schiffen zu befreien. Wenn Edel Bocksburg den Rücken kehrte, woran ich keinen Zweifel hatte, wer mochte Ansprüche darauf erheben? Philia hatte gesagt, die Küstenherzöge wären mit Lord Vigilant nicht einverstanden gewesen. Von den kleineren Adligen aus Bocksland war keiner so kühn, sich selbst zum Verweser der Königsburg zu erheben. Vielleicht streckte einer der Küstenherzöge die Hand danach aus. Nein, keiner von ihnen war in diesen Zeiten stark genug, sich noch eine zusätzliche Verantwortung aufzubürden. Jeder war jetzt auf sich allein gestellt. Außer, Edel blieb in Bocksburg. Nach Listenreichs Tod und Kettrickens Verschwinden war er der rechtmäßige König, daran vermochten auch die wenigen nichts zu ändern, die wußten, daß Veritas lebte. Würden die Küstenherzöge Edel als Herrscher akzeptieren? Würden sie Veritas als Herrscher akzeptieren, falls er zurückkehrte? Oder sich von dem Mann abwenden, der sie verlassen hatte, um einem Hirngespinst nachzujagen?
Die Zeit verging langsam an jenem sich niemals verändernden Ort. Essen und Wasser bekam ich nur, wenn ich darum bat, und auch dann nicht immer. Deshalb ließ sich der Tag nicht anhand der Mahlzeiten einteilen. Wenn ich nicht schlief, war ich meinen Gedanken und Ängsten ausgeliefert. Einmal versuchte ich zu Veritas zu ›denken‹, aber die Anstrengung verursachte mir ein Flimmern vor den Augen und langdauernde, pochende Kopfschmerzen. Für einen zweiten Versuch fehlte mir die Kraft. Hunger wurde zu einem Dauerzustand, ebenso unerbittlich wie die Kälte in der Zelle. Zweimal hörte ich die Wachen Philia zurückweisen und wie sie sich weigerten, mir das Essen und das Verbandszeug zu geben, das sie für mich gebracht hatte. Ich rief nicht nach ihr. Sie sollte aufgeben, mich meinem Schicksal überlassen. Trost fand ich nur, wenn ich schlief und mit Nachtauge im Traum auf Jagd ging. Ich versuchte, mir seine Augen und Ohren nutzbar zu machen, um zu erkunden, was in Bocksburg vor sich ging, doch er beurteilte alle Dinge nach den Maßstäben eines Wolfs, und wenn ich bei ihm war, teilte ich seine Werte. Zeit rechnete nicht nach Tagen und Nächten, sondern von Beute zu Beute. Das Fleisch, das ich mit ihm verschlang, konnte meinen menschlichen Körper nicht sättigen, und doch vermittelte das Gefühl des Fressens eine gewisse Befriedigung. Mit seinen Sinnen spürte ich, daß das Wetter umschlug und erwachte eines Morgens in der Gewißheit, daß ein klarer Wintertag angebrochen war. Piratenwetter. Die Küstenherzöge konnten es nicht wagen, noch länger in Bocksburg zu verweilen, falls sie nicht längst abgereist waren.
Wie um meinen Gedankengang zu bestätigen, entstand Bewegung am Ende des Ganges. Ich hörte Edels gereizte Stimme, den unterwürfigen Gruß des Wachhabenden, dann kamen schwere Schritte den Gang entlang. Zum erstenmal seit meinem Erwachen im Kerker drehte sich der Schlüssel im Schloß meiner Zelle und die Tür öffnete sich. Ich setzte mich langsam auf. Drei Herzöge und ein verräterischer Prinz schauten zu mir herein. Steifbeinig
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