Die Legende vom Weitseher 03 - Die Magie des Assassinen
Vorfahren war Sklave gewesen; sie besaß noch immer den Vadeliber, den er von seinem Herrn erhalten hatte zum Zeichen, daß er nicht länger unfrei war. Nur im Besitz eines solchen Schmucks, der exakt dem letzten auf die Wange des Sklaven tätowierten Symbol entsprach, hatte ein Sklave die Möglichkeit, sich in Chalced frei zu bewegen oder sogar die Grenze zu überqueren. Einen aufsässigen Sklaven erkannte man auf den ersten Blick an der Anzahl der Tätowierungen in seinem Gesicht, an der die Reihenfolge seiner Besitzer abzulesen war. ›Bildgesicht‹ war der Beiname für einen Sklaven, der von einem Herrn zum anderen verkauft worden war, zu gebrauchen höchstens für die Arbeit auf den Galeeren oder in den Minen. Die Frau forderte mich auf, den Schmuck abzunehmen, damit sie die feine Arbeit des Silbergeflechts einmal genau betrachten konnte, das den Saphir umspann. »Ihr müßt wissen«, erklärte sie, »es ist nicht damit getan, daß ein Sklave freigelassen wird. Anschließend muß er sich bei seinem Herrn den Gegenwert für diesen Schmuck verdienen. Ohne Vadeliber ist seine Freiheit nicht viel mehr als ein Laufen an langer Leine. An jedem Stadttor wird er angehalten, er darf das Land nicht verlassen, und er kann keine ehrliche Arbeit annehmen. Sein ehemaliger Herr ist seiner Unterhaltspflicht ihm gegenüber entbunden; der Sklave hingegen verliert bei seiner Freilassung alle Vergünstigungen, ohne jedoch die volle Selbstbestimmung zu erlangen.«
Ihr erstes Gebot betrug drei Goldkurante. Das war mehr als der Preis für die Passage zum Blauen See im Schutz eines Wagenzugs; es hätte gereicht, um ein Pferd zu kaufen, ein gutes Pferd, und mich nicht nur einem Treck anzuschließen, sondern in aller Bequemlichkeit mitzureisen. Ich verließ ihr Gewölbe, bevor sie versuchte, mich mit einem höheren Preis umzustimmen. Für einen Kupfergroschen kaufte ich mir Brot und suchte mir in der Nähe der Docks einen Platz, um es zu essen. Ich hatte vieles zu bedenken. Der Vadeliber stammte wahrscheinlich aus dem Besitz von Burrichs Großmutter; er hatte einmal erwähnt, sie wäre eine Sklavin gewesen und freigelassen worden. Was mochte dieser Schmuck ihm bedeutet haben, daß dieser ihn meinem Vater gab, und was hatte er meinem Vater bedeutet, daß er ihn behielt? Kannte Philia die Geschichte des Ohrrings, als sie ihn mir schenkte?
Als Mensch war ich nicht immun gegen die Verlockung des Goldes. Ich überlegte, wenn Burrich von meiner Situation wüßte, würde er sagen, ich solle das Angebot annehmen, daß mein Leben, meine Sicherheit ihm mehr bedeuteten als ein Pendant aus Silber und einem Edelstein. Das Gold würde mich in die Lage versetzen, ein Pferd zu kaufen, in die Berge zu reiten, Veritas zu suchen und dem ständigen Drängen seines Gabenbefehls ein Ende zu machen, der mich peinigte wie eine juckende Stelle, die ich nicht kratzen konnte.
Ich schaute über den Fluß und machte mir endlich das volle Ausmaß der Schwierigkeiten bewußt, die ich auf dieser Reise überwinden mußte. Die erste Etappe führte von hier zum Blauen See. Wie ihn überqueren? Auf der anderen Seite führten Wege über die bewaldeten Ausläufer hinauf in das zerklüftete Gebiet des Bergreichs. In Jhaampe, der Hauptstadt, mußte ich mir – aber wie? – eine Kopie der Karte beschaffen, nach der auch Veritas sich gerichtet hatte. Sie war nach alten Aufzeichnungen im Archiv von Jhaampe angefertigt worden, möglicherweise befand sich das Original noch immer dort. Nur damit hatte ich eine Möglichkeit, in der unerforschten Wildnis jenseits des Bergreichs Veritas zu finden. Um diese Herausforderung zu bewältigen, brauchte ich jede Münze, mußte ich jede mir zur Verfügung stehende Quelle ausschöpfen. Ungeachtet dessen beschloß ich, den Ohrring zu behalten. Nicht wegen der Bedeutung, die er für Burrich gehabt hatte, sondern wegen seiner Bedeutung für mich. Er war die letzte greifbare Verbindung zu meiner Vergangenheit, meinem früheren Ich, zu dem Mann, der mein Ziehvater gewesen war, sogar zu dem Fremden, meinem leiblichen Vater, der ihn vor mir getragen hatte. Seltsam, wie schwer es mir fiel, das Vernünftige zu tun. Ich nahm den Ohrring ab, wickelte ihn in das kleinste der Seidenmuster, die ich noch bei mir trug, und verstaute ihn in meiner Gürteltasche. Die Schmuckhändlerin hatte sich zu sehr dafür interessiert und sich sein Aussehen genau eingeprägt. Falls Edel beschloß, mir seine Häscher nachzuschicken, würde man nicht vergessen, diesen
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