Die Legende vom Weitseher 03 - Die Magie des Assassinen
Stellen kam unter dem Schnee der blanke Fels zum Vorschein. Schößlinge und Rutengestrüpp reckten sich nach dem Licht, alles zu schwach und zu spillerig, um daran in die Höhe zu klettern. Mir blieb nichts anderes übrig, als ein Stück zurückzugehen und nach einer Stelle Ausschau zu halten, die bessere Möglichkeiten bot. Als ich mich umdrehte, vernahm ich ein an- und abschwellendes Heulen. Weder Bracke noch Wolf, es konnte nur der Mischling sein. Etwas im Ton seiner Stimme überzeugte mich, daß er auf meiner Fährte war. Aufmunternde Rufe eines Mannes und wieder Hundegebell, diesmal näher. Ich ließ meinen Blick über die Felswand gleiten und suchte nach einem Punkt, an dem ich anfangen konnte zu klettern. Der Mann pfiff und rief den anderen zu, sie sollten ihm folgen, er hätte hier die Spur von Stiefelabdrücken. Sie sollten den Wolf lassen, das sei nur ein Ablenkungsmanöver. In diesem Augenblick wußte ich, daß Edel zu guter Letzt doch noch gefunden hatte, was er suchte: Einen mit der Alten Macht, der bereit war, mich zu jagen. Altes Blut hatte sich verkauft.
Ich sprang hoch und griff nach dem verholzten Stamm einer Schlingpflanze, die in luftigen Bögen an der Wand entlangwuchs. Sie hielt, als ich mich daran hochzog, die Füße hinaufschwang, mich hinstellte und nach einem gerade noch erreichbaren Strauch reckte. Der aber erwies sich als schlechte Wahl. Unter meinem Gewicht lösten sich die Wurzeln aus der dünnen Erdschicht, und ich fiel, konnte mich aber an der Schlingpflanze festhalten. Zeit, den Schreck zu verdauen, hatte ich nicht. Eile war geboten. An Büschen, Sträuchern und Wurzeln festgekrallt, Ellbogen, Knie und Zehenspitzen eingestemmt, arbeitete ich mich in die Höhe. Zweige brachen; dürre Grasbüschel blieben mir in der Hand, und schließlich tastete ich an der oberen Kante der Steilwand entlang, ohne einen zuverlässigen Halt für einen letzten Klimmzug zu finden. Am Grund der Klamm hörte ich einen Ruf, und gegen meinen Willen schaute ich nach unten. Ein Mann und ein Hund standen dort im Halbdunkel; während letzterer zu mir hinaufbellte, legte sein Herr einen Pfeil auf die Sehne. Ich hing hilflos über ihnen, die beste Zielscheibe, die man sich wünschen konnte.
»Bitte«, hörte ich mich ächzend sagen und gleich darauf das schwirrende, unverkennbare Geräusch einer Bogensehne. Ich fühlte einen harten Schlag gegen den Rücken, dann einen tieferen, heißeren Schmerz in meinem Innern. Meine linke Hand öffnete sich ohne mein Zutun. Sie ließ einfach los, und ich hing pendelnd nur noch an meiner rechten. Überdeutlich hörte ich das aufgeregte Winseln und Blaffen des Hundes, der mein Blut witterte, und das Rascheln der Kleidung des Mannes, als er den nächsten Pfeil aus dem Köcher zog.
Schmerz wie weißes Feuer und davon ausgehend das Gefühl einer dumpfen Taubheit in meinem rechten Handgelenk. Ich schrie auf, als meine Finger abglitten. In schierem Entsetzen scharrten meine Füße haltsuchend über Felsen, Erde, Wurzelwerk. Tatsächlich, wider alle Wahrscheinlichkeit, gelangte ich Ruck um Ruck höher hinauf. Mein Gesicht tauchte in verkrusteten Schnee. Ich spürte meinen linken Arm wieder und vollführte mit ihm ziellose, rudernde Bewegungen. Die Beine hoch! vernahm ich Nachtauges ungeduldige Aufforderung in meinem Kopf. Er gab keinen Laut von sich, denn er hatte Hemdstoff und Fleisch meines rechten Arms zwischen den Zähnen und zerrte mich über die Felskante. Die Hoffnung verlieh mir neue Kräfte. Ich stieß wild mit den Beinen aus und hatte plötzlich festen Grund unter dem Bauch. Ich robbte weiter und bemühte mich, den Schmerz zu ignorieren, der sich von der Pfeilwunde ausgehend, in pulsierenden roten Wellen in meinem ganzen Körper ausbreitete. Hätte ich es nicht besser gewußt, hätte ich geglaubt, daß ein Pfahl in meinem Rücken steckte.
Steh auf, steh auf! Wir müssen fliehen.
Ich weiß nicht mehr, woher ich die Kraft nahm, mich vom Boden aufzurappeln. Hinter mir kletterten die Hunde aus der Schlucht heraus, doch oben stand Nachtauge und nahm sie in Empfang. Seine schnappenden Kiefer rissen ihnen tiefe Wunden. Ihre blutigen Leiber schleuderte er auf die übrige Meute hinunter. Als der Mischling in die Tiefe stürzte, wurde das Gekläff unten leiser. Wir durchlitten beide seinen Todeskampf und hörten das Klagen des Mannes, dessen Brudertier im Schnee verblutete. Der zweite Jäger rief seine Hunde zurück und erklärte den Reitern zornig, es hätte keinen Sinn, die Tiere
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