Die Legende vom Weitseher 03 - Die Magie des Assassinen
in den sicheren Tod zu hetzen. Ich hörte die Männer rufen und fluchen, als sie ihre müden Pferde herumzogen und sich auf den Rückweg machten, um irgendwo eine Stelle zu finden, wo sie die Klamm verlassen und erneut die Verfolgung aufnehmen konnten.
Lauf! drängte Nachtauge. Wir wollten beide nicht über das eben Erlebte sprechen. Eine nichts Gutes verheißende, warme Flut strömte meinen Rücken hinunter, und gleichzeitig breitete sich eine schleichende Kälte in meinem Körper aus. Ich griff mit der Hand an meine Brust, um zu fühlen, ob die Pfeilspitze dort herausragte; aber nein, sie war tief in meinem Fleisch begraben. Ich wankte hinter Nachtauge her, betäubt von zu vielen Empfindungen, zu vielen verschiedenen Schmerzen. Bei jeder Bewegung zupften Hemd und Umhang an dem Pfeilschaft, und jedes Zupfen wurde an die Spitze in meinem Brustkorb weitergegeben. Ich fragte mich, welchen Schaden sie anrichten mochte. Ungebeten erschienen vor mir Bilder von auf der Jagd erlegten Rehen, die ich ausgeweidet und zerwirkt hatte, das von geronnenem Blut schwarze, gallertige Fleisch in der Umgebung einer solchen Wunde. Wenn er meine Lunge verletzt hatte... Ein Wild mit Lungenschuß kam nicht weit. Schmeckte ich Blut hinten auf meiner Zunge?
Denk nicht darüber nach! fuhr Nachtauge mich an. Du schwächst uns beide. Geh einfach weiter. Immer weiter.
Also wußte er so gut wie ich, daß ich nicht laufen konnte. Ich ging, und er trabte neben mir her. Eine Zeitlang. Irgendwann stolperte ich nur noch blindlings vorwärts in die Dunkelheit ohne die Vorstellung von einem Wohin, und er war nicht bei mir. Ich spürte nach ihm, doch ich konnte ihn nicht finden. Aus weiter Ferne hörte ich gedämpft Hundegebell. Ich torkelte gegen Bäume. Zweige zerkratzten mein Gesicht, aber es tat nicht weh. Mein Gesicht war gefühllos. Der blutgetränkte Hemdstoff an meinem Rücken war ein gefrorener Panzer, der an meiner Haut scheuerte. Ich wollte den Umhang enger ziehen, aber der aufflammende Schmerz zwang mich fast auf die Knie. Wie dumm von mir. Geh weiter, Fitz. Und ich ging weiter.
Stunden später oder nur Minuten saß ich im Schnee, und die Kälte kroch durch meine Glieder. Ich mußte aufstehen, mußte in Bewegung bleiben.
Ich schleppte mich weiter. Es kann nur ein kurzes Stück gewesen sein. Im Schutz einer Gruppe hoher Fichten, unter denen nur wenig Schnee lag, sank ich auf die Knie. »Bitte«, sagte ich. Mehr brachte ich nicht heraus. »Bitte.« Wer sollte mich hören? Wer Erbarmen haben?
Eine mit Fichtennadeln ausgepolsterte Mulde in einer Wurzelgabelung bot sich als Zuflucht an. Ich zwängte mich in die kleine Höhlung. Hinlegen konnte ich mich nicht, wegen des Pfeils, der aus meinem Rücken ragte; doch ich lehnte die Stirn gegen den freundlichen Baum und verschränkte die Arme auf der Brust. Ich hätte frieren müssen, aber selbst dafür war ich zu erschöpft. Ich sank in Schlaf. Sobald ich aufwachte, würde ich Feuer machen, nahm ich mir vor, und mich wärmen. Fast glaubte ich es zu spüren, Wärme auf meinem Gesicht, Wärme, die durch meine Kleider drang.
Mein Bruder!
Ich bin hier. Ich spürte nach ihm. Er kam zu mir. Das zottige Fell an seinem Hals war benetzt, von Geifer und Speichel zu einem Stachelkranz gefroren, doch nicht ein Zahn hatte seine Haut geritzt. An der Schnauze hatte er eine blutige Schramme; ansonsten war er unverletzt. Er hatte unsere Verfolger im Kreis herumgeführt und dann durch blitzschnelle Angriffe von hinten ihre Pferde in Panik versetzt, bis sie schließlich kopflos im Dunkeln durch eine unter Schnee begrabene Mulde mit hohem Gras stürmten. Nur zwei der Hunde waren noch am Leben, und eins der Pferde lahmte so schwer, daß der Reiter hinter einem anderen aufgesessen war.
Nun war Nachtauge auf dem Weg zu mir, trabte leichtfüßig die verschneiten Hänge hinan. Er war müde, ja, aber das Triumphgefühl wirkte beflügelnd. Die Nacht um ihn war kalt und kristallklar. Er bemerkte die Witterung und dann das flüchtige Blinken im großen Auge des Hasen, der unter einem Busch kauerte und hoffte, unentdeckt zu bleiben. Vergeblich. Ein einziger, blitzschneller Satz zur Seite, und er hatte den Hasen gepackt. Wir bissen in seinen knochigen Schädel und brachen ihm mit einem Schlenkern das Genick, dann setzten wir unseren Weg fort, das Gewicht der frisch geschlagenen Beute eine willkommene Bürde. Wir würden uns satt essen. Um uns erhob sich silbern und schwarz der nächtliche Wald.
Halt. Mein Bruder, tu das
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