Die Legende vom Weitseher 03 - Die Magie des Assassinen
wir in die entgegengesetzte Richtung. Das wird sie vielleicht eine Weile verwirren.
Fuchslisten! knurrte Nachtauge und schoß dann wie ein grauer Schatten an mir vorbei, um kurz darauf im Dickicht zu verschwinden. Ich tat mein Bestes, ihm so schnell wie möglich zu folgen. Am Rand der Schlucht warf ich einen Blick zurück. Hunde und Reiter tauchten soeben auf dem Hügelkamm auf. Ich bahnte mir einen Weg durch das verschneite Buschwerk und schlitterte mehr schlecht als recht den steilen Abhang hinunter. Nachtauge hatte genügend Spuren für ein ganzes Wolfsrudel hinterlassen und war voller Eifer dabei, ihnen noch weitere hinzuzufügen.
Nichts wie weg hier.
Ich wartete nicht auf seine Erwiderung, sondern eilte am Grund der Klamm entlang, so schnell mich meine Beine trugen. Der Schnee lag hier weniger tief, denn die überhängenden Bäume und Büsche hatten das meiste aufgefangen. Ich lief geduckt, um nicht gegen die Zweige zu stoßen und von ihrer kalten Last überschüttet zu werden. Das Kläffen der Meute drang durch die Frostluft zu mir her. Als es in ratloses Jaulen, Winseln und Japsen umschlug, wußte ich, sie hatten das Gewirr der Wolfsfährten am Boden der Schlucht erreicht. Zu schnell, sie saßen mir zu dicht im Genick!
Nachtauge!
Sei still! Die Hunde werden dich hören. Und dieser andere.
Mir blieb fast das Herz stehen. Unglaublich, daß ich so dumm gewesen war. Ich kämpfte mich durchs Gebüsch und lauschte angestrengt auf das, was sich hinter uns abspielte. Den Jägern gefiel die Fährte, die Nachtauge gelegt hatte. Sie trieben die Hunde regelrecht an, ihr zu folgen. In der Enge kamen die Reiter sich gegenseitig ins Gehege, und wenn wir Glück hatten, würden die Pferdehufe unsere wirkliche Spur zertrampeln. Zeit gewonnen, aber nicht allzuviel. Dann auf einmal aufgeregte Rufe und schrilles Gekläff. In meinem Kopf hallte ein Gewirr verstörter Hundegedanken. Ein Wolf war auf sie herabgesprungen und nach allen Seiten schnappend durch die Meute gestürmt und zwischen den Beinen der Pferde hindurch. Ein Mann war abgeworfen worden und hatte Mühe, sein bockendes Reittier einzufangen. Ein Hund hatte ein halbes Schlappohr eingebüßt und war fast irr vor Schmerzen. Ich versuchte, mein Bewußtsein dagegen abzuschirmen. Armes Vieh, und alles nicht zum eigenen Nutzen. Meine Beine waren bleischwer, und die Zunge klebte mir am Gaumen; aber ich trieb mich unerbittlich an, um die Frist zu nutzen, die Nachtauge mir unter Lebensgefahr verschafft hatte. Ich wollte ihm zurufen, von dem verwegenen Spiel abzulassen und zu fliehen, mußte jedoch meine Gedanken im Zaum halten, um der Meute nicht die wahre Richtung unserer Flucht zu verraten. Also lief ich weiter.
Die Schlucht wurde schmaler, ein tief eingekerbter Messerschnitt im Berg. Schlingpflanzen, Dornenranken und Sträucher überwucherten die steilen Wände, und ich vermutete, daß ich mich auf einem zugefrorenen Bachlauf bewegte. Ich fing an, nach einer Möglichkeit Ausschau zu halten, ins Freie zu gelangen. Hinter mir hörte ich die Hunde wieder jaulen und kläffen und sich gegenseitig mitteilen, daß sie jetzt die richtige Fährte gefunden hatten. Folgt dem Wolf, dem Wolf, dem Wolf. Also hatte Nachtauge sich ihnen erneut gezeigt und zog sie hinter sich her, weg von mir. Lauf, Bruder, lauf! Er warf mir den Gedanken zu, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, daß die Hunde ihn hören konnten. Ich spürte eine ausgelassene Fröhlichkeit in ihm, einen bedenkenlosen Übermut. So ähnlich hatte ich mich in der Nacht gefühlt, als ich Justin durch die Korridore von Bocksburg gehetzt hatte, um ihm mitten in der Großen Halle den Fangschuß zu versetzen, vor den Augen der Gästeschar, die zu Edels Krönungszeremonie geladen worden war. Nachtauge befand sich in einem Rausch, der ihn jegliche Vorsicht vergessen ließ. Vor Angst um ihn schlug mir das Herz bis zum Hals, aber trotzdem eilte ich weiter.
Die Schlucht war zu Ende. Vor mir hing ein glitzernder Wasserfall aus Eis, Denkmal für den Wildbach, der während der Sommermonate diese Klamm durchströmte. Das Eis wuchs in langen, welligen Zapfen an einem Felsspalt herunter, überglänzt von einer dünnen Haut aus fließendem Wasser. Der Schnee auf dem Boden darunter war verharscht. Vorsichtshalber blieb ich stehen, um nicht unversehens durch eine spröde Eisdecke zu brechen und mich in einem Tümpel wiederzufinden. Ich schaute mich um. Die überhängenden Wände trugen einen Mantel aus dichtem Pflanzenbewuchs, und an manchen
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