Die Legende vom Weitseher 03 - Die Magie des Assassinen
Dunkelheit. Etwas später kam ich für einen Augenblick zu mir. Erinnern kann ich mich an fast nichts. Der Narr stützte meinen Oberkörper und meinen Kopf, so daß ich aus der Tasse trinken konnte, die mir ein besorgter Chade an die Lippen hielt. Merle stand daneben, mit riesengroßen Augen wie ein erschrecktes Reh und wagte nicht, mich zu berühren. »Das sollte ihn wieder auf die Beine bringen«, hörte ich Chade sagen, bevor ich in einen tiefen Schlaf fiel.
Am nächsten Morgen stand ich trotz meiner hämmernden Kopfschmerzen zeitig auf und machte mich auf den Weg zu den Bädern. Ich schlüpfte so leise hinaus, daß der Narr nicht aufwachte; aber Nachtauge erhob sich und glitt hinter mir nach draußen.
Wo bist du letzte Nacht hingegangen? verlangte er zu wissen, doch ich hatte keine Antwort für ihn. Er spürte mein Widerstreben und war beleidigt. Ich gehe jetzt auf die Jagd, teilte er mir mit. Dir rate ich, fürderhin nur mehr Wasser zu trinken.
Ich stimmte ihm bereitwillig zu, und er verließ mich an der Tür des Badehauses.
Drinnen empfing mich der mineralische Gestank der heißen Quellen, die aus den Tiefen der Erde hervorsprudelten. Sie wurden in großen Becken aufgefangen und durch Rohre zu anderen Bassins geleitet, damit der Badende sich die ihm genehme Temperatur und Tiefe aussuchen konnte. In einer Wanne schrubbte ich mich von Kopf bis Fuß ab und tauchte dann in Wasser, das so heiß war, wie ich es eben noch ertragen konnte. Dabei verdrängte ich den Gedanken an den magischen Strom, der Veritas’ Arm verbrannt hatte. Als ich herausstieg, war ich rot wie ein gekochter Krebs. Am kühlen Ende des Badehauses hingen mehrere Spiegel an der Wand. Ich bemühte mich, beim Rasieren mein Gesicht nur abstrakt wahrzunehmen. Für meinen Geschmack hatte es zuviel Ähnlichkeit mit Veritas. Ich sah weniger ausgemergelt aus als noch vor einer Woche, aber die weiße Strähne über meiner Stirn war nachgewachsen und wirkte doppelt auffällig, wenn ich mein Haar zum Kriegerzopf zurückband. Es hätte mich nicht verwundert, den Abdruck von Veritas’ Hand auf meinem Gesicht zu finden oder zu entdecken, daß meine Narbe verschwunden und meine Nase begradigt war. Solche Macht hatte in dieser Berührung gelegen. Doch Edels Narbe hob sich weiß von meiner hitzegeröteten Wange ab, und die gebrochene Nase war immer noch schief. Äußerlich war mir von den Ereignissen der vergangenen Nacht nichts anzumerken. Wieder und wieder kehrten meine Gedanken zu jenem Augenblick zurück, zu dieser Manifestation reinster Macht. Ich rang darum, ihn wiedererstehen zu lassen, und fast gelang es, aber wie Schmerz oder Lust, so verblaßte auch diese Erfahrung in der Rückschau. Ich wußte, ich hatte etwas Außergewöhnliches erfahren. Die Euphorie der Gabe, vor der alle, die lernen, von ihr Gebrauch zu machen, gewarnt werden, war nur ein kleiner Funke, verglichen mit dem lodernden Feuerbrand aus Wissen, Fühlen und Sein, an dem ich in der vergangenen Nacht teilgehabt hatte.
Das Erlebnis hatte mich verändert. Der Zorn, den ich gegen Kettricken und Chade gehegt hatte, war erloschen. Das Gefühl war noch vorhanden, doch ich konnte es nicht zur alten Glut schüren. Ich hatte für einen kurzen Augenblick nicht nur meine Tochter gesehen, sondern die gesamte Situation aus allen möglichen Blickwinkeln betrachtet. Sie waren nicht grausam, nicht selbstsüchtig. Sie glaubten, das Richtige zu tun. Ich war anderer Ansicht, doch ich konnte nicht länger die staatsmännische Klugheit ihres Handelns leugnen. Ich fühlte mich innerlich wie tot. Sie würden Molly und mir das Kind wegnehmen. Wenn ich auch die Tat haßte, die Täter hassen konnte ich nicht.
Kopfschüttelnd kehrte in die Gegenwart zurück. Ich betrachtete mein Abbild im Spiegel und fragte mich, wie Kettricken mich sehen würde. Immer noch als den Jüngling, der hinter Veritas hergelaufen war und ihr bei Hofe aufgewartet hatte? Oder würde sie einen Blick in mein von Gewalt gezeichnetes Gesicht werfen und denken, daß vor ihr ein Fremder stand, daß der Fitz, den sie gekannt hatte, verschwunden war? Nun, sie wußte inzwischen, auf welche Art ich zu meinen Narben gekommen war. Von Rechts wegen durfte sie keinen Anstoß daran nehmen, und ich würde ihr Gelegenheit geben, den Mann hinter diesen Malen zu beurteilen.
Es kostete mich Überwindung, aber ich stellte mich mit dem Rücken zum Spiegel, um mir den jüngsten Beweis für Edels Mißfallen an meiner Person zu betrachten. Die frische Narbe
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