Die Legende vom Weitseher 03 - Die Magie des Assassinen
nicht den Kopf; trotzdem spürte ich eine Wärme, als hätte er zur Begrüßung meine Hand ergriffen. Mir war nicht, als müßte ich antworten. Statt dessen sah ich mit seinen Augen die Lockung und die Gefahr.
Vor uns floß ein Strom. Nicht Wasser, nicht schimmernder Stein. Er hatte etwas von beidem und war doch weder das eine noch das andere. Aus den zerklüfteten Bergen hinter uns kommend, durchschnitt er die Stadt wie eine blanke Klinge, um sich in der Ferne in einen noch älteren Fluß zu ergießen. Wie ein von einer Flut freigespültes Kohleflöz oder eine Goldader in Quarzgestein lag er entblößt auf dem Leib der Erde. Magie. Reinste, uralte Magie strömte dort, erhaben über die Menschen. Der Fluß der Gabe, auf dem ich so mühsam zu navigieren gelernt hatte, verhielt sich zu dieser Macht wie das Bouquet von Wein zu Wein. Was ich mit Veritas’ Augen erblickte, besaß eine physische Existenz, die so wirklich war wie meine eigene. Ich wurde augenblicklich davon angezogen wie die Motte von der Kerzenflamme.
Es war nicht allein die Schönheit dieses schimmernden Bandes. Die Magie durchdrang jeden einzelnen von Veritas’ Sinnen. Ihr Rauschen war Musik, eine Folge von Harmonien, der man lauschte, gebannt, gefesselt, in der Gewißheit, daß sie einem Höhepunkt zustrebte. Der Wind trug den Geruch des Stroms heran, flüchtig und wechselhaft. In diesem Augenblick ein Hauch von Limonenblüte, im nächsten eine aromatische Melange von Gewürzen. Ich schmeckte ihn mit jedem Atemzug und empfand eine unüberwindliche Sehnsucht danach, mich hineinzustürzen. Plötzlich war ich überzeugt, dort fände ich die Befriedigung jeden Verlangens, das mich je gequält hatte, nicht allein des Körpers, sondern auch der Seele. Ich wünschte mir, im Fleische hier zu sein, um dieses Phänomen ebenso ungemindert wahrzunehmen, wie Veritas es konnte.
Veritas blieb stehen und hob den Blick zum Himmel. Er atmete tief ein. Luft, die erfüllt war von der Gabe, wie Nebel getränkt ist mit Feuchtigkeit. Dann spürte ich auf Veritas’ Zunge einen heißen, metallischen Geschmack. Seine Sehnsucht wuchs zu einer unbeherrschbaren Gier. Er dürstete nach dem Strom. An seinem Ufer wollte er auf die Knie fallen und trinken, trinken, bis sein Durst gestillt war. Bis er erfüllt war vom Bewußtsein der gesamten Welt, teilhatte an dem Ganzen, um schließlich darin aufzugehen und Vollendung zu erfahren.
Doch im selben Augenblick würde Veritas selbst aufhören zu existieren.
Fasziniert, aber auch entsetzt, wich ich zurück. Ich glaube, es gibt nichts Erschreckenderes, als dem aufrichtigen Willen zur Selbstzerstörung zu begegnen. Obwohl ich selbst die Lockung spürte, konnte ich das nicht gutheißen. Ein solches Verhalten war Veritas’ nicht würdig. Weder der Mann noch der Prinz sollte einer solchen feigen Tat fähig sein. Ich schaute ihn an, als hätte ich ihn nie zuvor gesehen.
Und mir wurde bewußt, wie lange es tatsächlich her war, seit ich ihn zum letzten Mal gesehen hatte.
Stumpf geworden das glänzende Schwarz seiner Augen. Sein Umhang, der ihn umflatterte, war ein zerlumpter Fetzen; das Leder seiner Stiefel zeigte Brüche und Risse, und die Nähte klafften. Er ging mit unsicheren, schwerfälligen Schritten, und selbst wenn der Wind mit seinen heftigen Böen nicht gewesen wäre, hätte er geschwankt. Seine Lippen waren bleich und schrundig. Seine Haut besaß einen fahlen, blutleeren Ton. Ich hatte ihn in Sommern gesehen, wenn er sich im Ringen mit der Gabe gegen die Roten Korsaren so rückhaltlos verausgabt hatte, daß er schließlich nur noch ein Schatten seiner selbst gewesen war, durchsichtig, schwach wie ein Kind. Nun war er die verkörperte Zähigkeit, sehnige Muskeln über ein Gerüst von Knochen gespannt und mit Haut überzogen. Nur sein Wille hielt ihn aufrecht und ließ ihn weiter Fuß vor Fuß setzen, dem magischen Strom entgegen.
Ich wußte nicht, woher ich die Stärke nahm, der Lockung zu widerstehen. Vielleicht half mir, daß ich innegehalten und mich auf Veritas konzentriert hatte. Ich hatte begriffen, daß die ganze Welt verlieren würde, wenn er aufhörte, als Individuum zu existieren. Was immer die Quelle meiner Kraft auch sein mochte, ich bot sie gegen ihn auf. Ich warf mich ihm in den Weg, doch er ging durch mich hindurch. An diesem Ort war ich ohne Substanz. »Veritas! Bleib stehen, warte!« Ich stürzte mich auf ihn, eine wütende Feder im Wind. Ich konnte ihn nicht berühren, nicht festhalten. Er machte nicht
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