Die Legende vom Weitseher 03 - Die Magie des Assassinen
die Gegenwart zurück.
»Es tut mir leid.« Ich rieb mir die Augen und mußte plötzlich lachen. »Welche Ironie. Mein ganzes Leben lang ist es mir schwergefallen, von der Gabe Gebrauch zu machen. Sie kam und ging wie der Wind in den Segeln eines Schiffes. Nun auf einmal fliegt sie mir zu, ja, sie drängt sich mir auf. Und ich habe keinen anderen Wunsch, als sie zu nutzen und hinauszudenken, zu wissen, wie es denen geht, die ich liebe. Aber Veritas verbietet es mir, und ich muß mich fügen und verzichten und glauben, daß er weiß, was am besten ist.«
»Wie auch ich«, nickte sie müde.
Wir standen noch einen Augenblick in der Dämmerung, und ich kämpfte gegen den plötzlichen Drang, ihr den Arm um die Schultern zu legen und zu sagen, alles wird gut, wir finden ihn. Für einen flüchtigen Augenblick erschien sie mir wieder wie das hochgewachsene, ranke Mädchen, das aus den Bergen heruntergekommen war, um Veritas’ Gemahlin zu sein. Doch nun war sie die Königin der Sechs Provinzen, und ich hatte erfahren, über welch bewunderungswürdige innere Stärke sie gebot. Bestimmt brauchte sie keinen Trost von jemandem wie mir.
Wir schnitten noch etliche Portionen Fleisch von dem inzwischen halbgefrorenen Kadaver und kehrten dann zu unseren Gefährten in die Jurte zurück. Nachtauge schlummerte satt und zufrieden. Der Narr hatte Merles Harfe zwischen die Knie geklemmt und gab mit einem zweckentfremdeten Abhäutemesser dem Rahmen eine gefälligere Form. Merle saß neben ihm, schaute zu und gab sich Mühe, nicht besorgt auszusehen. Krähe hatte einen kleinen Beutel hervorgeholt, den sie für gewöhnlich an einer Schnur um den Hals trug, und suchte eine Handvoll polierter Steine heraus, die offenbar für ein Spiel gedacht waren. Während Kettricken und ich das Feuer in dem kleinen Becken wieder in Gang brachten und Vorbereitungen trafen, das Fleisch zu braten, bemühte Krähe sich, mir die Regeln zu erklären. Ohne großen Erfolg. Schließlich gab sie auf und rief: »Du wirst dahinterkommen, wenn du erst ein paarmal verloren hast.«
Ich verlor öfter als nur ein paarmal in den Stunden, die wir nach dem Essen über das Spiel gebeugt saßen. Der Narr beschäftigte sich weiter mit Merles Harfe, unverdrossen, obwohl er immer wieder die Arbeit unterbrechen mußte, um das Messer nachzuschärfen. Kettricken saß schweigend, fast melancholisch auf ihrem Schlafplatz, bis der Narr es bemerkte und anfing, vom Leben in Bocksburg zu erzählen, wie es früher gewesen war, in glücklicheren Tagen. Ich lauschte mit einem Ohr und fühlte mich zurückversetzt in jene Zeit, als die Roten Schiffe nur in abendlichen Schauergeschichten am Herdfeuer vorkamen und mein Leben geregelt gewesen war, wenn auch nicht glücklich. Irgendwie kam die Rede auf die verschiedenen Vaganten, die in Bocksburg aufgespielt hatten, berühmte und weniger berühmte, und Merle bestürmte ihn mit tausend Fragen über sie.
Ich selbst erlag bald der Faszination des Spiels, in dessen Regeln Krähe mich einführte. Es wirkte seltsam beruhigend auf mich. Die Steine waren rot, schwarz und weiß, glattpoliert und lagen angenehm in der Hand. Jeder Spieler nahm blind Steine aus dem Beutel und setzte sie nach Gutdünken auf die Kreuzungspunkte von Linien auf einem gemusterten Tuch. Es war ein gleichzeitig simples und unglaublich kompliziertes Spiel. Jedesmal, wenn ich eine Partie gewonnen hatte, machte Krähe mich mit noch raffinierteren Strategien bekannt. Es faszinierte mich und ließ in meinem Kopf keinen Raum für Erinnerungen oder Grübeleien. Als schließlich alle anderen bereits halb schlafend in ihren Decken lagen, legte Krähe die Steine zu einer Spielsituation aus und forderte mich auf, sie zu studieren.
»Mit einem Zug eines schwarzen Steins kann die Partie gewonnen werden«, erklärte sie. »Aber die Lösung ist nicht leicht zu erkennen.«
Ich betrachtete die Anordnung der Steine und schüttelte den Kopf. »Wie lange hast du gebraucht, um das Spiel zu lernen?«
Sie lächelte in sich hinein. »Als Kind hatte ich eine schnelle Auffassungsgabe. Doch ich muß zugeben, du übertriffst mich.«
»Ich dachte, dieses Spiel käme aus irgendeinem fernen Land.«
»Nein, es ist ein altes Spiel aus den Marken.«
»Ich habe es noch nie gesehen und nie davon gehört.«
»In meiner Jugend war es durchaus gebräuchlich, wenn auch nicht jeder es lernen durfte. Aber das ist jetzt unwichtig. Präge dir die Anordnung der Steine ein, und morgen früh sagst du mir die
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