Die Legende vom Weitseher 03 - Die Magie des Assassinen
zuhören. Manchmal hilft es zu reden.«
»Und manchmal hilft es nicht.« Plötzlich wurde ihr Griff um meine Schulter fester. »Der Tag, an dem du vor uns standest und darüber sprechen mußtest, was Edel dir angetan hat... Mein Herz blutete deinetwegen, aber dadurch wurde nichts ungeschehen gemacht. Nein. Ich will nicht darüber sprechen oder auch nur daran denken.«
Ich hob ihre Hand an die Lippen und küßte die Finger, die um meinetwillen gebrochen worden waren. »Was dir angetan wurde, darf nicht überschatten, was du bist. Wenn ich dich anschaue, sehe ich Merle Vogelsang, die Vagantin.«
Sie nickte an meiner Brust, und ich wußte, es war so, wie ich vermutet hatte. Wir beide teilten diese Furcht. Wir wollten nicht als Opfer leben. Mehr sagte ich nicht, sondern saß nur da und hielt sie fest. Wie schon früher kam mir der Gedanke, auch wenn wir Veritas finden, auch wenn durch seine Rückkehr das Kriegsglück sich wunderbar zu unseren Gunsten wenden und wir den Sieg davontragen würden – für manche würde er viel zu spät kommen. Ich hatte einen langen, mühevollen Weg zurückgelegt; doch immer noch wagte ich zu hoffen, daß an seinem Ende ein eigenes Leben auf mich wartete. Merle hatte nicht einmal das. Wie weit sie auch landeinwärts flüchtete, sie würde nie den Krieg hinter sich lassen können. Ich drückte sie fester an mich und spürte, wie ihr Schmerz in mich hineinströmte. Nach einer Weile hörte sie auf zu zittern.
»Es ist dunkel«, meinte ich schließlich. »Wir kehren am besten ins Lager zurück.«
Sie seufzte und stand auf. Ich wollte mich auf den Weg machen, aber sie hielt mich an der Hand fest. »Nimm mich«, sagte sie einfach. »Nur einmal, nur für hier und jetzt. In Zärtlichkeit und Freundschaft. Um das – andere auszulöschen. Gib mir wenigstens das von dir.«
Ich begehrte sie. Ich begehrte sie mit einem schmerzlichen Verlangen, das nichts mit Liebe zu tun hatte und, glaube ich, auch nur wenig mit Lust. Sie war warm und lebendig. Wir hätten uns gegenseitig Trost und Zuflucht geschenkt. Hätte ich bei ihr liegen können und mich danach erheben, ohne schlechtes Gewissen und ohne deswegen anders für Molly zu empfinden, hätte ich es getan. Doch was ich für Molly fühlte, hatte Gültigkeit nicht nur, wenn wir zusammen waren. Ich hatte Molly ein Recht auf mich eingeräumt. Ich konnte es nicht einfach widerrufen, nur weil wir eine Zeitlang getrennt waren. Es gab keine Worte, um Merle begreiflich zu machen, daß es keine Zurückweisung für sie bedeutete, wenn ich Molly die Treue hielt. Deshalb sagte ich: »Nachtauge kommt. Er hat ein Kaninchen.«
Merle trat dicht an mich heran. Sie ließ die Hand an meiner Brust hinaufgleiten bis zu meinem Hals. Ihre Finger zeichneten die Linie meines Unterkiefers nach und streichelten meine Lippen. »Schick ihn weg«, sagte sie leise.
»Ich könnte ihn niemals so weit wegschicken, daß er nicht alles wüßte, was wir tun«, erklärte ich wahrheitsgemäß.
Ihre Hand hielt in der Bewegung inne. »Alles?« fragte sie bestürzt.
Alles. Er setzte sich neben uns hin. Ein zweites Kaninchen baumelte zwischen seinen Kiefern.
»Wir sind verschwistert. Wir teilen alles.«
Sie ließ die Hand sinken und trat von mir zurück. Ihr Blick richtete sich auf die dunkle Silhouette des Wolfs. »Alles, was ich dir eben gesagt habe...«
»Er versteht es auf seine eigene Weise. Nicht wie ein Mensch, aber...«
»Wie hat Molly darüber gedacht?«
Ich holte tief Atem. Ich hatte nicht damit gerechnet, daß unser Gespräch eine solche Wendung nehmen würde. »Sie hat es nicht gewußt.« Nachtauge trollte sich in Richtung des Lagers davon. Ich folgte ihm, und Merle folgte mir.
»Und wenn sie es erfährt? Wird sie es einfach hinnehmen, dieses – Teilen?«
»Wahrscheinlich nicht.« Warum brachte Merle mich immer dazu, über Dinge nachzudenken, mit denen ich mich lieber nicht auseinandersetzen wollte?
»Was, wenn sie dich zwingt, zwischen ihr und dem Wolf zu wählen?«
Ich blieb abrupt stehen, dann ging ich weiter, etwas schneller als zuvor. Die Frage verfolgte mich, aber ich weigerte mich, darüber nachzudenken. Doch in meinem Inneren wisperte eine Stimme: »Wenn du Molly die Wahrheit sagst, wird es dazu kommen. Unweigerlich.«
»Du wirst es ihr doch sagen, oder nicht?« Erbarmungslos stellte Merle die eine Frage, vor der ich mich zu verstecken suchte.
»Ich weiß nicht«, antwortete ich grimmig.
»Ach.« Nach einer Weile fügte sie hinzu: »Wenn ein Mann das sagt,
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