Die Legende vom Weitseher 03 - Die Magie des Assassinen
folgen. Merle kam hinter mir, nicht lautlos, aber auch nicht ungeschickt. Wenn man durch den Wald geht, sei es bei Tag oder in der Nacht, kann man sich entweder im Einklang mit ihm bewegen oder dagegen. Manche Menschen erfassen es instinktiv, andere lernen es nie. Merle bewegte sich mit dem Wald, duckte sich unter tiefhängenden Zweigen hindurch und wich anderen aus. Sie versuchte nicht, sich mit Gewalt einen Weg durch Gestrüpp zu bahnen, sondern drehte und wendete sich, um nicht von den Ruten und Ranken ergriffen zu werden.
Du hast all deine Sinne so sehr auf sie gerichtet, daß du ein Kaninchen nicht sehen würdest und wenn du darauf trittst, spottete Nachtauge.
Als hätte er es beschrien, sprang im selben Augenblick ein Kaninchen aus einem Busch genau neben meinem Fuß. Sofort setzte ich ihm nach. Es war schneller als ich, doch ich wußte, es würde wahrscheinlich einen Bogen schlagen, und Nachtauge war bereits unterwegs, um ihm den Weg abzuschneiden. Ich hörte Merles eilige Schritte hinter mir, hatte aber keine Zeit, an sie zu denken, während ich dem Tierchen nachjagte, das um Baumstämme flitzte und unter Zweigverhauen hindurch. Zweimal hätte ich es fast erwischt, und zweimal entkam es hakenschlagend; aber schließlich sprang es doch aus meinen zupackenden Händen geradewegs in den Rachen des Wolfs.
Ich war gerade dabei, unserer Beute den Bauch aufzuschlitzen und die Eingeweide für meinen vierbeinigen Jagdgefährten auf den Boden fallen zu lassen, als Merle uns einholte. Nachtauge schlürfte die Zwischenmahlzeit mit Genuß hinunter. Auf ein neues, meinte er dann und verschwand in der Dunkelheit.
»Er überläßt dir das Fleisch einfach so?« erkundigte sich Merle.
»Er überläßt es mir nicht. Ich trage es für ihn. Er weiß, daß jetzt die beste Jagdzeit ist und hofft, gleich noch einmal Beute zu machen. Falls nicht, hat er die Gewißheit, daß ich das Fleisch für ihn aufbewahre und wir später teilen.« Ich befestigte das tote Kaninchen an meinem Gürtel, machte mich wieder auf den Weg. Der warme Körper schlenkerte bei jedem Schritt leicht gegen meinen Oberschenkel.
»Ach so.« Kurze Zeit später, wie als Antwort auf etwas, das ich gesagt hatte, bemerkte Merle: »Ich finde deine Verschwisterung mit dem Wolf nicht abstoßend.«
»Ich auch nicht.« Sie mochte die beste Absicht gehabt haben, aber die Wahl ihrer Worte ging mir gegen den Strich. Mit offenen Augen und Ohren pirschte ich den Waldwechsel entlang. Links von mir und ein Stück voraus hörte ich das leise Tappen von Nachtauges Pfoten. Ich hoffte, er würde bald ein Wild aufstöbern und in meine Richtung treiben.
Wieder etwas später fügte Merle hinzu: »Und ich werde aufhören, den Narren ›sie‹ zu nennen. Was immer ich auch vermute.«
»Gut.« Deswegen fühlte ich mich nicht bemüßigt, meinen Schritt zu verlangsamen.
Ich bezweifle, daß du heute nacht als Jäger zu gebrauchen bist.
Ich habe diese Situation nicht herbeigeführt.
Ich weiß.
»Bestehst du auch noch darauf, daß ich mich entschuldige?« fragte Merle mit einer Stimme, als läge ihr nichts ferner.
»Ich... hm«, stammelte ich ratlos und schwieg.
»Nun gut.« Ihr Tonfall vermittelte mir eine Ahnung von ihrem Gesichtsausdruck: vorgerecktes Kinn, geblähte Nasenflügel, weiße, schmale Lippen. »Ich entschuldige mich, Lord FitzChivalric.«
Ich fuhr zu ihr herum. »Warum tust du das?« verlangte ich aufgebracht zu wissen. Ich konnte Nachtauge spüren. Er war bereits über den Hügelkamm hinweg, denn er hatte mich für diese Nacht als hoffnungslos aufgegeben.
»Meine Königin hat mir zu verstehen gegeben, daß ich durch mein Verhalten die Harmonie der Gruppe störe. Sie sagte, Lord FitzChivalric trüge manche Bürde, von der ich nichts wüßte, und er hätte es nicht verdient, auch noch mein Mißfallen ertragen zu müssen.«
Ich fragte mich, wann all dies besprochen worden war, und mußte erkennen, daß ich, in mein eigenes Schicksal verstrickt, von den Strömungen und Stimmungen zwischen den Menschen um mich herum kaum etwas wahrnahm. »Dies alles ist vollkommen unnötig«, erwiderte ich mit erzwungener Ruhe. Auf merkwürdige Art fühlte ich mich beschämt, wie ein verwöhntes Kind, das so lange geschmollt hat, bis die anderen Kinder schließlich nachgeben. Ich beschloß, offen und ehrlich mit ihr zu sprechen und das Beste zu hoffen. »Ich weiß nicht, weshalb du mir deine Freundschaft entzogen hast, wenn nicht die Alte Macht der Grund war. Ich begreife auch nicht,
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