Die Legende vom Weitseher 03 - Die Magie des Assassinen
Krähe saß verdrossen am Feuer und stocherte nach dem Fleisch. Sie mußte die Königin weggehen gesehen haben, daher verzichtete ich auf eine Ausrede.
»Ich werde Kettricken suchen.«
»Lobenswert«, antwortete Krähe nüchtern. »Mir hat sie gesagt, sie wolle sich Veritas’ Drachen ansehen, aber selbst für einen gründlichen Blick ist sie schon zu lange weg.«
Mehr brauchte nicht gesagt zu werden. Ich folgte Nachtauge, der Kettrickens Spur aufgenommen hatte, die statt zu Veritas’ Drachen zum Ausgang des Steinbruchs führte. Es war finster. Die riesigen Blöcke aus schwarzem Stein schienen das schwache Mondlicht aufzusaugen. Schatten fügten sich zu einem grotesken Mosaik, verzerrten die Perspektive. Das Bewußtsein möglicher Gefahr ließ den Steinbruch ungeheuer groß erscheinen wie die Kulisse eines Alptraums.
Mir lief ein Schauer über den Rücken, als ich merkte, daß wir in Richtung des Pfeilers gingen; doch wir fanden Kettricken noch davor, bei der Skulptur von Mädchen-auf-einem-Drachen. Sie war auf den Steinblock gestiegen, der den Drachen gefangenhielt, stand bei dem Mädchen und hatte eine Hand auf ihr Bein gelegt. Es sah aus, als schauten die beiden Frauen sich an, Schwestern im Leid. Das Mondlicht glitzerte silbern auf einer steinernen Träne und brach sich in den Tränen auf Kettrickens Wangen. Nachtauge sprang lautlos auf das Postament und rieb leise winselnd den Kopf an Kettrickens Knie.
»Pst«, mahnte sie leise. »Du mußt still sein. Kannst du sie nicht weinen hören? Ich kann es.«
Ich glaubte ihr, denn ich fühlte sie mit der Alten Macht hinausspüren, stärker als ich es je zuvor bei ihr bemerkt hatte.
»Majestät«, sprach ich sie leise an.
Sie erschrak; ihre Hand flog zum Mund, als sie sich zu mir herumdrehte.
»Ich bitte um Vergebung. Es war nicht meine Absicht, Euch zu erschrecken, aber Dir solltet nicht allein hier draußen sein. Krähe fürchtet, daß immer noch Gefahr von der Kordiale droht, und von hier ist es nicht mehr weit bis zu dem Pfeiler.«
Kettricken lächelte bitter. »Wo immer ich auch bin, bin ich allein. Und ich wüßte nicht, was sie mir Schlimmeres antun könnten, als ich mir selbst angetan habe.«
»Nur deshalb nicht, weil Ihr sie nicht so gut kennt wie ich. Bitte, Majestät, kehrt mit mir ins Lager zurück.«
Sie bewegte sich, und ich dachte, sie würde zu mir hinuntersteigen; aber sie setzte sich hin und lehnte den Rücken gegen den Drachen. Der Schmerz der Reiterin verschmolz in meiner Wahrnehmung mit dem Kettrickens.
»Ich wollte nichts anderes, als neben ihm liegen«, sagte sie leise. »Ihn umarmen und von ihm umarmt werden. Festgehalten werden, Fitz. Nein, nicht um mich sicher zu fühlen. Ich weiß, daß es für uns hier keine Sicherheit gibt. Aber ich hatte mir gewünscht, seine Nähe und Liebe zu spüren. Mehr erwartete ich nicht. Doch er wollte nicht. Er sagte, er dürfe mich nicht berühren. Daß er nicht wage, etwas Lebendiges zu berühren, außer seinem Drachen.« Sie wandte das Gesicht zur Seite. »Selbst mit verhüllten Armen und Händen wollte er mich nicht anfassen.«
Ehe ich begriff, was ich tat, stand ich schon oben auf dem Sockel, nahm Kettricken bei den Schultern und zog sie auf die Füße. »Er würde es tun, wenn er könnte«, beteuerte ich. »Glaubt mir, ich weiß es. Er würde es tun, wenn er könnte.«
Sie hob die Hände vors Gesicht und brach in Schluchzen aus. »Du und deine Gabe. Und er. Du sprichst so leichthin davon, daß du weißt, was er fühlt. Von Liebe. Aber ich... ich besitze diese Gabe nicht. Ich bin nur... Ich muß es spüren, Fitz. Ich muß seine Wärme spüren, seine Nähe. Ich muß glauben, daß er mich liebt, wie ich ihn liebe und obwohl ich ihn enttäuscht habe. Wie kann ich es glauben... wenn er sich weigert, auch nur...«
Ich legte die Arme um Kettricken und zog sie an die Brust, während Nachtauge sich an uns beide drückte und leise quiemte.
»Er liebt Euch«, sagte ich zu ihr. »Wirklich. Aber das Schicksal hat euch beiden diese Bürde auferlegt. Es ist euer Los, sie zu tragen.«
»Opfer«, hauchte sie, und ich wußte nicht, ob sie den Namen ihres Kindes genannt oder ihr Leben beschrieben hatte. Sie weinte, und ich hielt sie fest, streichelte ihr Haar und sagte ihr, es würde besser werden, bestimmt würde es besser werden. Wenn erst Frieden herrschte, würde ihr gemeinsames Leben von neuem beginnen, und sie würden Kinder haben, die sorglos und in Sicherheit aufwachsen konnten, ohne die Bedrohung durch
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