Die Legende vom Weitseher 03 - Die Magie des Assassinen
erwartete, ihn atmen zu fühlen. Ich schloß die Augen, faßte Mut, und dann spürte ich zu dem Steinbildnis hin. Es war anders als jedes Hinausgreifen mit der Alten Macht zuvor. Fremd. Kalt. Tot, bis auf dieses Irrlicht körperlosen Lebens, gefangen und verzweifelt. Einen Augenblick lang entzog es sich mir, dann berührte ich es und spürte meinerseits ein forschendes Tasten. Es sehnte sich nach dem Gefühl von Wind in den Haaren, dem kreisenden, warmen Blut in den Adern, dem Duft des Sommertags, dem Reiben von Kleidung auf meiner Haut und allem, was die Erfahrung des Lebendigseins ausmachte, wonach es hungerte. Erschreckt von der Stärke des Verlangens riß ich die Hand zurück. Beinahe fürchtete ich, es könnte mich zu sich hineinziehen.
»Seltsam«, flüsterte der Narr, denn mit mir verbunden, hatte er das Erlebnis geteilt. Seine Augen suchten meinen Blick und hielten ihn eine Zeitlang fest; dann hob er die Hand mit dem ausgestreckten Zeigefinger.
»Wir sollten das nicht tun«, sagte ich; aber es lag keine Überzeugung in meinen Worten. Die schlanke Gestalt auf dem Rücken des Drachen trug ein ärmelloses Wams, eng anliegende Hosen und Sandalen. Mit einer silbernen Fingerspitze berührte der Narr ihren Oberarm.
Ein Gabenschrei des Schmerzes und der Wut erfüllte den Steinbruch. Der Narr wurde rückwärts von dem Postament geschleudert und stürzte schwer auf den Felsboden, wo er besinnungslos liegenblieb. Meine Beine gaben plötzlich nach, und ich fiel neben dem Drachen hin, voller Angst, die erzürnte Kreatur könnte mich zertrampeln wie ein toll gewordenes Pferd. Instinktiv rollte ich mich zusammen und schützte den Kopf mit den Armen.
Es dauerte nur einen kurzen Augenblick, aber das Echo des Aufschreis schien endlos von den glatten schwarzen Felswänden und den Steinblöcken widerzuhallen. Mit weichen Knien kletterte ich vom Sockel hinunter, um zu sehen, was dem Narren geschehen war, als Nachtauge herbeistürmte. Was war das? Wer bedroht uns? Ich kniete mich neben dem Narren auf den Boden. Er hatte sich den Kopf angeschlagen, und Blut sickerte auf den schwarzen Stein, aber ich glaubte nicht, daß er deswegen besinnungslos war.
»Ich wußte, wir hätten es nicht tun sollen. Also weshalb habe ich zugelassen, daß du es doch tust?« schalt ich mich selbst, als ich ihn aufhob, um ihn ins Lager zu tragen.
»Weil du ein noch größerer Dummkopf bist als er. Und ich bin der größte Dummkopf von allen. Euch allein zu lassen und darauf zu vertrauen, daß ihr keinen Unfug anstellt. Was hat er getan?« Krähe war noch außer Atem vom schnellen Lauf.
»Er hat das Mädchen auf dem Drachen mit der Gabe an seinen Fingern berührt.«
Während ich sprach, schaute ich an der Skulptur hinauf. Zu meinem Entsetzen war am Arm des Mädchens ein schimmernder silberner Fingerabdruck zu sehen, der sich purpurn umrahmt von ihrer bronzegetönten Haut abhob. Krähe folgte meinem Blick, und ich hörte sie aufstöhnen.
Sie wirbelte zu mir herum und hob die Hand, wie um mich zu schlagen, erstarrte und ballte sie zu einer knochigen Faust, die sie langsam sinken ließ.
»Genügt es nicht, daß sie für alle Ewigkeit dort gefangen ist, allein und getrennt von allem, was sie einst geliebt hat? Ihr zwei müßt kommen und ihr zu allem Überfluß noch Schmerz zufügen! Wie konntet ihr so grausam sein?«
»Wir haben es nicht mit Absicht getan. Wir haben nicht gewußt...«
»Unwissenheit ist immer die Entschuldigung der rücksichtslos Neugierigen!« fauchte Krähe.
Plötzlich wurde ich ebenfalls wütend. »Wirf mir nicht meine Unwissenheit vor, wenn du es doch bist, die sich weigert, meine Fragen zu beantworten. Andeutungen und Warnungen und Orakelsprüche, aber kein Wort, das uns helfen könnte. Und wenn wir etwas falsch machen, schimpfst du und sagst, wir hätten es besser wissen müssen. Wie denn? Wie können wir es besser wissen, wenn diejenige, die es wirklich besser weiß, sich weigert, ihr Wissen mit uns zu teilen?«
Der Narr regte sich leicht in meinen Armen. Der Wolf, der uns ruhelos umkreist hatte, kam winselnd heran, um seine Hand zu beschnüffeln.
Vorsicht! Paß auf, daß du nicht an seine Finger kommst.
Was hat ihn gebissen?
Ich weiß nicht. Und laut fügte ich hinzu: »Ich weiß überhaupt nichts. Ich bin anscheinend dazu verurteilt, im Dunkeln herumzustolpern und alles zu Bruch zu schlagen.«
»Ich wage nicht, mich einzumischen«, schrie Krähe mich an. »Was, wenn ein Wort von mir dich auf den falschen Weg bringt?
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