Die Legende vom Weitseher 03 - Die Magie des Assassinen
Sockel. Noch fehlte die detaillierte Ausarbeitung wie an der übrigen Skulptur, aber das gesamte rechte Bein war vollständig. Veritas legte sorgsam eine Hand auf eine der Zehen und saß da, ohne sich zu rühren, geduldig und in sich versunken. Ich bemerkte keine Bewegung seiner Hand, doch ich spürte das Wirken der Gabe. Wenn ich danach tastete, fühlte ich das lautlose Bersten und Reißen, mit dem der Stein abschilferte. Es hatte wirklich den Anschein, als wäre der Drache im Fels verborgen gewesen und Veritas’ Aufgabe bestünde nur darin, ihn zum Vorschein zu bringen, eine glänzende Schuppe nach der anderen.
»Fitz, hör auf.« Ich bemerkte den Ärger in Veritas’ Stimme. Ärger, weil ich seine Gabe belauschte, und Ärger, weil ich ihn von seinem Werk ablenkte.
»Laßt mich Euch helfen«, bat ich nochmals. Was er und Krähe taten, übte eine unwiderstehliche Faszination auf mich aus. Vorher, als Veritas den Stein mit seinem Schwert bearbeitet hatte, hatte ich den Drachen als eine bemerkenswerte Bildhauerarbeit gesehen. Doch jetzt überzog ihn ein Schimmern der Gabe, wahrend Veritas und Krähe ihre Macht auf ihn einwirken ließen. Es verlangte mich danach, selbst Hand anzulegen und bei der Erschaffung dieser gewaltigen Kreatur zu helfen. Die beiden arbeiten zu sehen erweckte in mir einen Gabenhunger, wie ich ihn bisher nie gespürt hatte. »Ich bin länger mit Euch in der Gabe verbunden gewesen als jeder andere. In den Tagen, als ich an Bord der Rurisk am Ruder saß, habt Ihr mir gesagt, ich sei Eure Kordiale. Weshalb weist Ihr mich jetzt zurück, wo ich helfen könnte und Ihr Hilfe so nötig braucht?«
Veritas seufzte und richtete den Oberkörper auf. Der Zeh war noch nicht fertig, doch man konnte bereits die schwachen Umrisse der Schuppen und die Anfänge der Scheide für die säbelartig gebogene Kralle erkennen. Ich fühlte, wie sie beschaffen sein würde, gerillt wie die Fänge eines Greifen. Wie gerne hätte ich mich gebückt und diese Linien aus dem Stein herausgelockt.
»Hör auf, daran zu denken«, befahl Veritas mir streng. »Fitz. Fitz, sieh mich an. Hör mir zu. Erinnerst du dich an das erste Mal, als ich Kraft von dir genommen habe?«
Allerdings. Ich war ohnmächtig geworden. »Ich kann meine Stärke jetzt besser beurteilen«, antwortete ich.
Er überhörte meinen Einwand. »Du hattest keine Ahnung, worauf du dich einläßt, als du mir sagtest, du wärst des Königs Born. Ich ging davon aus, daß du wußtest, was du tust, aber dann mußte ich erkennen, daß dem nicht so war. Ich sage dir jetzt geradeheraus, daß du nicht weißt, worum du mich bittest. Ich hingegen weiß, was ich dir verweigere. Mehr gibt es nicht zu sagen.«
»Aber Veritas...«
»In dieser Sache duldet König Veritas kein Aber, FitzChivalric.« Er wies mich in meine Grenzen, wie er es im Umgang mit mir nur selten getan hatte.
Ich mußte mich beherrschen, damit meine Enttäuschung nicht in Zorn umschlug. Er hatte bereits wieder die Hand beinahe liebevoll auf den Zeh des Drachen gelegt. Ich lauschte einen Augenblick auf das Klingen von Krähes Hammer. Sie sang ein altes Liebeslied, während sie den Schweif des Drachen aus dem Stein herausarbeitete.
»Majestät, König Veritas, wenn Ihr mir erklären würdet, was es ist, das ich nicht weiß, dann könnte ich selbst entscheiden, ob...«
»Die Entscheidung liegt nicht bei dir, Junge. Wenn du wirklich den Wunsch hast zu helfen, dann könntest du aus Zweigen einen Besen binden und Schutt und Grus wegfegen. Es ist kein Vergnügen, in dem Zeug zu knien.«
»Ich würde lieber etwas wirklich Nützliches tun«, murmelte ich verdrossen, als ich mich abwandte.
»FitzChivalric!« Diese Schärfe in Veritas’ Stimme hatte ich seit meiner Kinderzeit nicht mehr gehört; mit einem mulmigen Gefühl im Bauch drehte ich mich wieder zu ihm herum.
»Du überhebst dich«, sagte er schroff. »Meine Königin hält diese Feuer in Gang und schärft die Meißel für mich. Und du glaubst, du bist zu gut für solche Arbeiten?«
In einer solchen Situation ist eine kurze Antwort die beste. »Nein, Majestät.«
»Dann wirst du mir einen Besen binden. Morgen. Für heute, so ungern ich es auch sage, sollten wir uns alle zur Ruhe begeben.« Er stand auf und taumelte ein wenig. Dann straffte er sich und legte liebevoll eine silberne Hand auf die mächtige Schulter des Drachen. »Bei Sonnenaufgang«, versprach er ihm.
Ich rechnete damit, daß er nach Krähe rief, aber sie war bereits aufgestanden und
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