Die Legende vom Weitseher 03 - Die Magie des Assassinen
noch immer scharf und gefährlich. Man konnte sich gut vorstellen, wie er damit Masten knickte oder Ruderer über Bord fegte. »Realder!« rief ich seinen Namen. »Realder!«
Nichts. Kein noch so geringes Aufflackern der Gabe und kaum eine merkbare Veränderung in der Alten Macht. Nun, ich hatte nicht angenommen, daß es so einfach sein würde. Während der nächsten Stunden versuchte ich alles nur Denkbare, um das Geschöpf zu wecken. Ich legte das Gesicht an seine schuppige Wange und spürte so tief in den Stein hinein, wie es mir möglich war. Von einem Regenwurm hätte ich mehr Antwort bekommen. Ich streckte mich neben dem steinernen Reptil aus und bemühte mich, eins mit ihm zu sein. Ich versuchte, die sich in der Tiefe regende Alte Macht zu erreichen. Ich verströmte Zuneigung. Ich befahl ihm streng zu erwachen. Eda helfe mir, ich drohte ihm sogar mit ernsten Konsequenzen, falls er sich nicht augenblicklich erheben würde, um meinem Willen zu gehorchen. Alles ohne den geringsten Erfolg. Nun gut, versuchen wir es anders. Ich dachte ihm den Narren. Nichts. Ich griff nach dem Gabentraum, den der Narr und ich gehabt hatten, rief mir jede Einzelheit der Frau mit der Hahnenkrone ins Gedächtnis und bot ihm das an. Keine Reaktion. Ich verlegte mich auf einfache Dinge. Veritas hatte gesagt, vielleicht wären sie verhungert. Ich stellte mir Teiche mit frischem, süßem Wasser vor und fette, silberne Fische in der kühlen Tiefe. Ich malte mir aus, wie Realders Drache von einem größeren verschlungen wurde und vermittelte ihm dieses Bild. Vergeblich.
Ich dachte zu meinem König. Falls Leben in diesen Bildnissen existiert, ist es zu schwach und fern, als daß ich es erreichen könnte.
Es beunruhigte mich ein wenig, daß Veritas sich nicht die Mühe machte zu antworten, doch womöglich betrachtete auch er dieses Unternehmen als eine Art letzten Versuch mit wenig Aussicht auf Erfolg. Ich verließ Realders Drachen und wanderte von einer Skulptur zur nächsten, spürte nach ihnen, ob sich irgendwo eine stärkere Ausstrahlung der Alten Macht manifestierte. Einmal glaubte ich, fündig geworden zu sein, doch bei genauerer Überprüfung stellte ich fest, daß eine Feldmaus unter der Brust des Drachen ihr Nest hatte.
Ich suchte mir eine Skulptur mit einem Bocksgehörn aus und wandte auf sie jede Taktik an, die ich an Realders Drachen ausprobiert hatte, mit ebensowenig Erfolg. Mittlerweile war es früher Abend geworden. Zeit, an den Rückweg zu denken. Ich fragte mich, ob Veritas wirklich damit gerechnet hatte, ich könnte Erfolg haben. Verbissen ging ich auf dem Weg zu dem Pfeiler noch einmal zu jedem Drachen hin und unternahm einen allerletzten Versuch. Das rettete mir wahrscheinlich das Leben. Ich stand von einem auf, weil ich von dem nächsten eine starke Ausstrahlung der Alten Macht zu spüren glaubte, doch als ich hinkam – es war der massige, geflügelte Keiler mit den rasiermesserscharfen Hauern –, bemerkte ich, daß die Strömung von einer weiter entfernten Quelle ausging. Ich hob den Blick und spähte zwischen den Bäumen hindurch in der Erwartung, ein Reh zu entdecken oder ein Wildschwein. Doch was ich sah, war ein Mann mit gezücktem Schwert, der mir den Rücken zuwandte.
Ich sank hinter dem Keiler auf die Knie. Mein Mund war plötzlich trocken, und mein Herz schlug wie ein Hammer. Es war nicht Veritas und nicht der Narr, soviel erkannte ich auf den ersten Blick. Der Mann war kleiner als ich, hatte sandfarbenes Haar und hielt das Schwert, als verstünde er damit umzugehen. Gekleidet war er in Gold und Braun. Nicht Burls untersetzte Gestalt, nicht schlank und dunkel wie Freund Will. Ein Fremder, aber in Edels Diensten.
Schlagartig war mir alles klar. Wie hatte ich so dumm sein können? Will und Burl hatten ihre Eskorte verloren, ihre Pferde, ihre Vorräte. An zehn Fingern konnte man sich ausrechnen, daß sie zu Edel dachten, damit er neue Männer und Ausrüstung schickte. Bei den dauernden Scharmützeln an der Grenze war es für einen kleinen Trupp ein leichtes, unbemerkt durch die feindlichen Reihen zu schlüpfen, Jhaampe zu umgehen und die Gabenstraße zu erreichen. Der Bergrutsch zwischen uns und ihnen war eine beachtliche Barriere, aber nicht unüberwindlich. Das Leben seiner Männer aufs Spiel zu setzen, darin war Edel gut bewandert. Ich fragte mich, wie viele die Überquerung versucht hatten und wie viele in die Tiefe gestürzt sein mochten. Auf jeden Fall waren Will und Burl wieder mit allem Nötigen
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