Die Legende vom Weitseher 03 - Die Magie des Assassinen
erkennst du eine Gefahr früher als ich. Du willst in dieselbe Richtung wie wir. Wäre es für dich eine solche Zumutung, eine Zeitlang bei Tag zu wandern statt bei Nacht?«
»Vater, du sollst dich nicht vor ihm demütigen!« schalt Imme.
»Lieber demütige ich mich vor ihm, als daß ich vor Entfremdeten auf den Knien liegen muß, damit sie euch verschonen!« wies er sie zurecht. An mich gewandt, fügte er hinzu; »Wir hatten vor ein paar Wochen einen Zusammenstoß mit Entfremdeten. Die Mädchen waren verständig genug, auf mich zu hören und davonzulaufen, als ich nicht mehr weiterkonnte. Aber sie haben uns unseren Proviant weggenommen, und sie haben meine Harfe beschädigt und...«
»Und sie haben ihn geschlagen«, sagte Imme hart. »Deshalb haben wir uns geschworen, Melisma und ich, daß wir das nächstemal nicht vor ihnen weglaufen werden, ganz gleich, wie viele es sind. Nicht, wenn es bedeutet, daß wir Vater allein lassen müssen.« Keine Spur mehr von Koketterie oder Spott in ihrer Stimme; ich wußte, sie meinte es ernst.
Ich werde aufgehalten, dachte ich schicksalsergeben zu Nachtauge. Warte auf mich, halte nach mir Ausschau, folge mir ungesehen.
»Also gut, ich werde euch begleiten«, gab ich nach. Was konnte ich anderes tun? »Obwohl ich als Kämpfer nicht viel tauge.«
»Als ob man ihm das nicht am Gesicht ablesen könnte«, bemerkte Imme halblaut zu Melisma. Ihre Stimme hatte wieder den spöttischen Ton angenommen, aber ich bezweifelte, daß sie wußte, wie tief ihre Worte mich trafen.
»Mein Dank ist alles, womit ich dich entlohnen kann, Cob.« Josh streckte die Hände über den Tisch, ich griff danach, und wir besiegelten unsere Abmachung nach alter Sitte. Er lächelte, als wäre ihm ein Stein vom Herzen gefallen. »Also nimm meinen Dank und einen Anteil an allem, was uns Vaganten zuteil wird. Eine Kammer können wir uns nicht leisten, aber der Wirt läßt uns in seiner Scheune nächtigen. Es ist nicht wie früher, als ein fahrender Musikant überall eine Mahlzeit und ein Nachtlager bekam, doch wenigstens haben wir in der Scheune ein Tor zwischen uns und der Nacht. Und der Wirt hat ein gutes Herz, er wird sich nicht kleinlich zeigen, wenn ich ihm sage, daß du als Leibwächter mit uns reist.«
»Es wird ein besseres Nachtlager sein, als ich seit langem hatte«, sagte ich höflich, um ihn nicht vor den Kopf zu stoßen. Mir war, als hätte ich mir eben selbst eine Schlinge um den Hals gelegt.
In was bist du jetzt wieder hineingeraten? wunderte sich Nachtauge. Ich fragte mich dasselbe.
Kapitel 5
Konfrontationen
Was hat man sich unter der Alten Macht vorzustellen? Manche würden sagen, es ist eine Abartigkeit, eine widernatürliche Tändelei des Verstandes, die einem Menschen eine vertraute Kenntnis des Lebens und der Sprache der Tiere ermöglicht, bis er schließlich selbst kaum mehr als ein Tier ist. Meine Studien der Fakten und Gespräche mit Wissenden haben mich allerdings zu einem anderen Schluß geführt. Die Alte Macht scheint eine Form von geistiger Verbundenheit zu sein, gewöhnlich mit einem bestimmten Tier, die ein Verständnis der Gedanken und Empfindungen dieses Tieres ermöglicht. Sie verleiht hingegen keineswegs die Fähigkeit, mit dem Vieh, den Vögeln und den Fischen zu reden. Ein mit der Alten Macht Begabter ist sich in besonderem Maße des Lebens in seiner ganzen Vielfalt bewußt, dazu gehören auch die Menschen und sogar einige der besonders mächtigen und alten Bäume, doch vermag er nicht jedes beliebige Tier in eine ›Unterhaltung‹ zu verwickeln. Er ist imstande, die Nähe eines Tieres zu spüren und vielleicht zu erkennen, ob es mißtrauisch oder feindselig oder neugierig ist, aber er besitzt nicht Gewalt über die vierfüßigen Geschöpfe im Wald und auf der Flur und die Vögel unter dem Himmel, wie phantasievolle Fabeln uns glauben machen wollen. Man kann es vielleicht so ausdrücken: Die Alte Macht öffnet einem Menschen die Augen für das Tierhafte in sich selbst und damit auch für das Menschliche in der Natur des Tieres. Die legendäre Treue eines Tieres zu seinem verschwisterten Menschen ist nicht die Anhänglichkeit eines Hundes gegenüber seinem Herrn, sondern beide, Mensch und Tier, sind sich in gegenseitiger Freundschaft verbunden, und in diesem Bund ist keiner geringer als der andere.
Ich schlief unruhig und nicht nur, weil ich nicht mehr daran gewöhnt war, Mauern um mich zu haben und ein Dach über dem Kopf. Was ich über Entfremdete auf den
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