Die Legende vom Weitseher 03 - Die Magie des Assassinen
wir, konnte ich es wieder aufheben; wenn nicht, hatte ich ohnehin keine Verwendung mehr dafür. Doch Imme, Melisma und Josh waren Musikanten, ihre Instrumente sicherten ihnen das tägliche Brot, und keiner von ihnen machte Anstalten, sich von seinem Packen zu trennen. Ich sparte mir die Mühe, sie dazu aufzufordern. Melisma und Imme nahmen instinktiv den alten Mann in die Mitte. Sie klammerten sich an ihre Wanderstäbe wie ein Schiffbrüchiger an die rettende Planke. Der meine lag mir griffig in der Hand, ich führte zur Probe einige Fechterschläge aus. Für einen Augenblick übernahm mein Körper das Denken.
»Cob, steh den Mädchen bei. Achte nicht auf mich. Paß nur auf, daß ihnen nichts geschieht«, bat Josh mich mit brüchiger Stimme.
Seine Worte drangen in mein Bewußtsein, und plötzlich durchflutete mich lähmendes Entsetzen. Meine eben noch gelösten Bewegungen wurden hölzern und eckig und alles, woran ich denken konnte, waren die Niederlage, Blut und Schmerzen. Mein Magen krampfte sich zusammen; die Knie wurden mir weich, und ich hatte keinen anderen Wunsch, als kehrtzumachen und Fersengeld zu geben, ohne Rücksicht auf den alten Mann und die beiden Mädchen. »Halt, warte«, wollte ich dem Tag zurufen. »Ich bin noch nicht bereit. Ich weiß nicht, ob ich kämpfen werde oder weglaufen oder einfach vor Angst in Ohnmacht fallen.« Aber die Zeit kennt keine Gnade. Sie kommen durchs Gebüsch, ließ Nachtauge mich wissen. Zwei voraus, einer hinterdrein. Der gehört mir.
Sei vorsichtig, warnte ich ihn. Ich hörte sie durch das Unterholz brechen und konnte sie riechen, bevor ich sie sah. Dann schrie Melisma auf, die den Gegner erspäht hatte, und schon kamen sie zwischen den Bäumen hervorgestürmt. Entfremdete planten ihre Überfälle nicht, verabredeten kein gemeinsames Vorgehen. Ihre ganze Taktik bestand darin, sich auf den Gegner zu stürzen und ihn zu erschlagen. Sie waren beide größer als ich und allem Anschein nach von keinerlei Selbstzweifeln geplagt. Ihre Kleidung, obgleich schmutzig, war in gutem Zustand, bestimmt führten sie noch nicht lange dieses Leben. Beide hielten Knüppel in der Hand. Mehr zu erkennen, blieb mir keine Zeit.
Das Entfremden machte die Menschen weder dumm noch schwerfällig, allerdings verloren sie die Fähigkeit, Gefühlsregungen anderer wahrzunehmen oder vorherzusehen, was diese Gefühle bei einem Gegner bewirkten. Deshalb erschienen ihre Handlungen oft unbegreiflich. Zum Beispiel befriedigten sie ihre Bedürfnisse mit der Unmittelbarkeit eines Tieres. Das Pferd, heute gestohlen, um nicht mehr zu Fuß gehen zu müssen, schlachteten sie morgen, weil der Hunger in diesem Augenblick wichtiger war als die Bequemlichkeit des Reitens. Im Kampf zogen sie nicht an einem Strang. Sie waren keine verschworene Gemeinschaft. Ob sie sich wegen einer Bagatelle gegenseitig an die Kehle gingen oder gemeinsam über einen arglosen Wanderer herfielen, war oft nur eine Frage des Zufalls. Auch wenn sie sich zu Banden zusammenschlossen, kannten sie untereinander keine Loyalität. Doch trotz allem legten sie eine grausame Schläue an den Tag, wenn es darum ging, sich etwas zu verschaffen, was sie haben wollten.
Ich wußte das alles, und deshalb war ich nicht überrascht, als die beiden Entfremdeten versuchten, mich zu umgehen, um sich erst den weniger, wehrhaften Gegner vorzunehmen. Was mich überraschte, war die feige Erleichterung, die ich empfand. Unfähig mich zu rühren, wie in meinen Alpträumen, ließ ich sie an mir vorbeilaufen.
Imme und Melisma setzten sich tapfer zur Wehr, aber so unbeholfen und ungeschickt, wie es zu erwarten war. Kein Instinkt, keine Abstimmung, um nicht versehentlich sich gegenseitig oder Josh zu verletzen. Ihr Leben war die Musik, nicht der Kampf. Josh stand zur Untätigkeit verurteilt zwischen ihnen; er hielt seinen Stab zum Zuschlagen bereit in beiden Händen, konnte jedoch keinen Gebrauch davon machen, wegen der Gefahr, Imme oder Melisma zu treffen. Ohnmächtiger Zorn verzerrte sein Gesicht.
Die Gelegenheit war günstig. Ich hätte mein Bündel aufheben und davonlaufen können, ohne noch einen Blick über die Schulter zu werfen. Daß die Entfremdeten mich verfolgten, brauchte ich nicht zu befürchten. Sie gaben sich im allgemeinen mit dem zufrieden, was ohne Gefahr oder Anstrengung zu haben war. Doch ich tat es nicht. Ein letzter Rest Mut, Stolz oder was auch immer, hinderte mich daran. Ich suchte mir den kleineren der beiden Männer aus, obwohl er scheinbar
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