Die Legende vom Weitseher 03 - Die Magie des Assassinen
Menschen zu leben, ohne sich im dichtgeknüpften Netz von Erwartungen und Abhängigkeiten zu verstricken?
Der Tag war angenehm warm. Wäre ich allein auf der Walz gewesen, hätte ich Freude daran gehabt, den Fernweg entlangzuwandern. In den Wäldern linkerhand zwitscherten die Vögel; rechterhand konnten wir zwischen den lichten Baumreihen hindurch den Fluß glitzern sehen.
Lastkähne trieben in schneller Fahrt dem Meer entgegen; Frachtsegler kämpften sich – es ging kein Wind – von Rudern getrieben quälend langsam gegen die Strömung voran. Wir sprachen wenig, und nach einer Weile ließ Josh sich wieder von Melisma ›Kreuzfeuers Kordiale‹ aufsagen. Wenn sie stockte, hütete ich mich, wieder den Mund aufzumachen.
Meine Gedanken schweiften in die Vergangenheit. Alles war so viel einfacher gewesen, als ich mich noch nicht um meine nächste Mahlzeit oder ein sauberes Hemd kümmern mußte. Ich hatte geglaubt, so geschickt im Umgang mit Menschen zu sein, so tüchtig in meinem Gewerbe. Aber da war Chade gewesen, um mir mit Rat und Tat zur Seite zu stehen, ich hatte Zeit gehabt, mir meine Worte und mein Vorgehen zurechtzulegen. Angewiesen auf meinen eigenen Verstand und das, was ich auf dem Rücken tragen konnte, war ich weniger erfolgreich. Aller Unterstützung beraubt, auf die ich einst gedankenlos vertraut hatte, war es nicht nur mein Mut, an dem ich zweifelte. Ich stellte meine sämtlichen Fähigkeiten in Frage. Assassine, des Königs Born, Kämpfer, Mann – war ich das noch? Wenigstens eins davon? Ich versuchte mich an den verwegenen Burschen zu erinnern, der auf Veritas’ Kriegsschiff Rurisk am Ruder gesessen hatte, der sich ohne darüber nachzudenken axtschwingend ins Kampfgetümmel gestürzt hatte. Unvorstellbar, daß ich das gewesen sein sollte.
Zu Mittag verteilte Imme den Rest Brot. Es war nicht mehr viel. Die Mädchen gingen vor uns her und unterhielten sich halblaut, während sie das trockene Brot kauten und mit Schlucken aus der Wasserflasche hinunterspülten. Ich schlug Josh vor, an diesem Abend früher zu lagern, damit ich die Möglichkeit hatte, auf die Jagd zu gehen oder noch einmal mein Glück beim Fischen zu versuchen.
»Das würde bedeuten, wir erreichen die nächste Stadt später als um die Mittagszeit morgen«, gab er zu bedenken.
»Morgen abend ist auch noch früh genug«, versicherte ich ihm. Er wandte mir das Gesicht zu. Vielleicht, um mich deutlicher erkennen zu können, aber seine milchigen Augen schienen mein Innerstes zu erforschen. Es war schwer, der unausgeprochenen Bitte zu widerstehen, die ich dort las, aber ich schwieg.
Als es am späten Nachmittag allmählich kühler wurde, begann ich nach geeigneten Plätzen für das Nachtlager Ausschau zu halten. Nachtauge war vorausgelaufen, um zu kundschaften, und plötzlich spürte ich, wie sich seine Nackenhaare sträubten.
Es sind Männer hier, die nach Aas stinken und nach ihrem eigenen Unrat. Ich kann sie wittern, ich kann sie sehen, doch anders kann ich sie nicht spüren. Das Unbehagen, das er jedesmal in der Nähe von Entfremdeten empfand, drang bis in mein Bewußtsein. Ich teilte es. Ich wußte, sie waren einst Menschen gewesen und im Besitz des Funkens der Alten Macht wie jedes andere lebende Wesen. Für mich war es gespenstisch zu erleben, wie sie sich bewegten und sprachen, obwohl ich sie mit meinem besonderen Sinn nicht wahrnehmen konnte. Für Nachtauge war es, als ob Steine umhergingen und aßen.
Wie viele? Alt oder jung?
Mehr als wir und größer als du. So beurteilte ein Wolf Kräfteverhältnisse. Sie lauern an der Straße, dicht hinter der Biegung vor euch.
»Laßt uns hier rasten«, schlug ich meinen Begleitern vor. Drei Köpfe drehten sich verdutzt zu mir herum.
Zu spät. Sie haben euch gewittert. Sie kommen.
Keine Zeit, sich zu trennen; keine Zeit, sich eine glaubhafte Erklärung auszudenken.
»Vor uns sind Entfremdete. Mehr als zwei. Sie haben an der Straße gelauert, und jetzt kommen sie auf uns zu.« Strategie? »Haltet euch bereit.«
»Woher weißt du das?« forschte Imme argwöhnisch.
»Laufen wir weg!« Melisma war gleichgültig, woher ich von den Entfremdeten wußte. In ihren weit aufgerissenen Augen stand die blanke Angst.
»Nein. Sie werden uns einholen, und dann sind wir außer Atem. Und selbst wenn wir ihnen heute entkommen, müßten wir morgen an ihnen vorbei.« Ich ließ mein Bündel zu Boden fallen und stieß es mit dem Fuß von mir weg. Nichts darin war so kostbar wie mein Leben. Siegten
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