Die Legende vom Weitseher 03 - Die Magie des Assassinen
nichts als dornenbewehrte Ranken. Trotzdem wehrte er sich nach Kräften, doch ich hielt ihn mit meinem ganzen Gewicht nieder, und Nachtauge vergaß seine Schmerzen und sprang ihm auf den Rücken. Er schlug die Zähne in den Stiernacken des Mannes und riß und zerrte daran, bis wir beide blutbespritzt waren. Die röchelnden Klagelaute des Entfremdeten erstarben nach und nach zu einem schaumigen Gurgeln.
Die Vaganten hatte ich vollkommen vergessen, bis ein Aufschrei größter Not aus einer weiblichen Kehle mich an sie erinnerte. Während Nachtauge sich erschöpft fallen ließ und seine Schulter leckte, bückte ich mich nach dem Schwert, das der Entfremdete verloren hatte und lief zur Straße zurück. Als ich aus dem Wald hervorkam, bot sich mir ein erschreckender Anblick. Der Entfremdete hatte sich auf die zappelnde Imme geworfen und war dabei, ihr die Kleider vom Leib zu reißen. Melisma kniete am Boden, hielt ihren Arm umklammert und schrie vor Schmerzen. Ein zerraufter und staubbedeckter Josh raffte sich eben von der Straße auf und bewegte sich mit ausgestreckten Händen – seinen Stab hatte er verloren – in Richtung von Melismas Stimme.
Im Nu war ich mitten unter ihnen. Ich schleuderte den Entfremdeten mit einem Tritt von Imme herunter und stieß ihm von oben herab mit beiden Händen das Schwert in den Leib. Er bäumte sich auf, trat nach mir und versuchte, mich zu packen, aber ich stützte mich auf die Klinge, bis ich ihn an den Boden genagelt hatte. Durch sein Toben riß er selbst die Wunde immer weiter auf. Sein Mund spie mir Blut und röchelnde Flüche entgegen. Er bekam meinen rechten Unterschenkel zu fassen und versuchte, mich von den Beinen zu reißen, aber ich befreite mich aus seinem Griff. Gern hätte ich das Schwert herausgezogen und ihn schnell getötet, doch er war so stark, daß ich es nicht wagte. Imme machte schließlich ein Ende, indem sie ihm mit der ganzen Kraft ihrer Angst und ihres Hasses den Stab ins Gesicht rammte. Das plötzliche Zurücksinken und Erschlaffen des Mannes war für mich nicht weniger eine Gnade als für ihn. Ich brachte noch eben genug Kraft auf, ihm die Klinge aus dem Leib zu ziehen, dann ging ich mit weichen Knien ein, zwei Schritte rückwärts und setzte mich mit einem Ruck auf den Boden.
Abwechselnd sah ich meine Umgebung klar und verschwommen. Melismas schmerzerfülltes Wimmern klang in meinen Ohren wie das ferne Kreischen von Möwen. Als wäre ein Damm gebrochen, stürzte alles auf mich ein; ich war alle und überall. Oben im Wald leckte ich meine Schulter, scheitelte mit der Zunge das dichte Fell, erkundete das Ausmaß der Wunde, während ich sie mit Speichel überzog. Gleichzeitig saß ich auf der Straße in der Abendsonne und roch Staub und Blut und Exkremente, als die Schließmuskeln des Toten erschlafften. Ich fühlte jeden Hieb, den ich ausgeteilt und hingenommen hatte, die dumpf protestierenden Muskeln, die Zerrungen und Prellungen sowie den Protest meiner vom Parieren des Knüppels arg mitgenommenen Schultergelenke. Die blutrünstige Art meines Tötens hatte für mich zwei Gesichter. Ich wußte, wie es war, den Schmerz zu fühlen, den ich zugefügt hatte. Ich wußte, was sie empfunden hatten, bezwungen, dem Feind ausgeliefert, Tod die einzige Rettung vor noch mehr Qualen. Mein Bewußtsein pendelte zwischen den Extremen von Opfer und Mörder. Ich war beides.
Und allein. Einsamer, als je zuvor. Immer war früher in einer Situation wie dieser jemand für mich dagewesen. Bordkameraden am Ende einer Schlacht. Burrich, der mich zusammenflickte und nach Hause schleppte. Nach Hause, wo Philia herbeieilte, um mich zu bemuttern, oder Chade und Veritas mich ermahnten, besser auf mich aufzupassen. Molly, die in der Stille der Nacht kam, um mit ihren Zärtlichkeiten die Gewalt vergessen zu machen.
Diesmal war der Kampf vorüber und ich noch am Leben, und niemanden kümmerte es, außer dem Wolf. Ich liebte ihn, aber deutlicher als je zuvor war mir bewußt, daß ich mich auch nach der Berührung eines Menschen sehnte. Wäre ich wirklich ein Wolf gewesen, hätte ich den Kopf zum Himmel erhoben und geheult. So aber griff ich hinaus, auf eine Art, die ich nicht beschreiben kann. Nicht mit der Alten Macht, nicht mit der Gabe, eine unheilige Verschmelzung der beiden, eine verzweifelte Suche nach irgend jemandem, irgendwo, der vielleicht Anteil an meinem Schicksal nahm.
Fast glaubte ich, etwas zu spüren. Hob vielleicht Burrich den Kopf und blickte über das Feld, auf dem er
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