Die Legende vom Weitseher 03 - Die Magie des Assassinen
haben würde. Weder suchte sie Rückhalt bei nahen und entfernten Verwandten in den Adelshäusern der Marken, noch knüpfte sie ein Netz von Beziehungen, die auf dem Status ihres verstorbenen Gemahls gründeten. Statt dessen wählte sie als Fundament das einfache Kriegsvolk, das sich aus Männern wie Frauen zusammensetzte. Die wenigen, die von König Listenreichs Veteranen und Königin Kettrickens Fähengarde übriggeblieben waren, befanden sich in der merkwürdigen Situation von Wächtern, die nichts zu bewachen hatten. Die in der Burg stationierten Truppen waren durch die Einheiten, die Lord Vigilant aus Farrow mitgebracht hatte, von ihren Pflichten abgelöst worden, und man wies ihnen untergeordnete Aufgaben zu, wie zum Beispiel das Reinigen und Instandhalten der Gebäude und Verteidigungsanlagen der Burg. Sie wurden unregelmäßig besoldet, hatten den Respekt vor sich selbst und voreinander verloren und waren zu oft müßig. Prinzessin Philia begann unter dem Vorwand, sie hätten keine andere Beschäftigung, ihre Dienste in Anspruch zu nehmen. Unter anderem bestand sie darauf, von einer Leibwache begleitet zu werden – was ihr als Witwe eines königlichen Prinzen zustand –, als sie von einem Tag auf den anderen anfing, auf ihrer alten Seidenlocke auszureiten. Aus nachmittäglichen Spazierritten wurden Tagesausflüge, schließlich blieb sie über Nacht aus und nahm Quartier ausgerechnet in Ortschaften, die entweder von den Roten Korsaren heimgesucht worden waren oder die einen Überfall fürchteten. In den verwüsteten Dörfern standen sie und ihre Zofe Lacey den Verwundeten bei, stellten Listen der Gefallenen oder Entfremdeten auf, und ihre Leibgarde half, Trümmer wegzuräumen und Notunterkünfte für obdachlos gewordene Bürger zu errichten. Diese Arbeit, wenn auch für Soldaten nicht angemessen, rief den Männern ins Gedächtnis, daß es ursprünglich ihre Aufgabe gewesen war, gegen diesen Feind zu kämpfen, der unser Land bedrohte, und was geschah, wenn es niemanden gab, der ihm Einhalt gebot. Die Dankbarkeit der Menschen, denen sie halfen, gab ihnen ihr Selbstbewußtsein zurück und ein Gefühl des Zusammenhalts. In den anderen Dörfern diente die kleine Schar der Bewaffneten als Demonstration, daß Bocksburg und der Stolz der Weitseher noch nicht untergegangen waren. In einigen Ortschaften wurden Palisaden hochgezogen, hinter denen verschanzt die Dorfbewohner im Falle eines Angriffs wenigstens hoffen konnten, ihr Leben oder ihre Seele so teuer wie möglich zu verkaufen.
Man weiß nicht, was Lord Vigilant über Prinzessin Philias Eskapaden dachte. Sie hielt es nicht für nötig, seine Genehmigung einzuholen. Nach ihrer Darstellung ritt sie nur zu ihrem Vergnügen aus, die Soldaten, die sie begleiteten, hatten sich freiwillig zur Verfügung gestellt und verrichteten auch freiwillig die Arbeit in den Dörfern. Einige, denen sie besonderes Vertrauen schenkte, dienten ihr schließlich als ›Laufburschen‹ und verrichteten Botengänge. Zum Beispiel trugen sie Nachrichten zu Burgen in Rippon, Bearns und sogar Shoaks, ließen sich berichten, wie es um die Orte an der Küste bestellt war und brachten ihrerseits Neuigkeiten aus den Marken. Diese Botengänge führten in und durch besetzte Gebiete und waren gefahrvolle Abenteuer. Oft trugen Philias Abgesandte eine Ranke von dem Efeu bei sich, den sie das ganze Jahr über in ihren Gemächern zog, um ihn als Gruß und Wahrzeichen den Empfängern ihrer Botschaften und ihrer Unterstützung zu überreichen. Über die sogenannten Efeuläufer wurden Balladen geschrieben, die von ihrem Mut und ihrer Klugheit berichteten, und uns daran erinnern, daß selbst die höchsten Mauern mit der Zeit von dem alles erobernden überwuchernden Efeu erobert werden. Vielleicht als das ruhmreichste Bravourstück muß das von Viola gelten, der jüngsten Läuferin. Im Alter von elf Jahren bewältigte sie den langen Weg bis zu den Eishöhlen von Bearns, wo die Herzogin sich verborgen hielt, um ihr zu melden, wo und wann ein Versorgungsboot anlegen würde. Einen Teil dieser Reise legte Viola verborgen zwischen Getreidesäcken auf einem Fouragewagen der Korsaren zurück. Eines Nachts entkam sie unbemerkt mitten aus ihrem Lager, doch nicht ohne zuvor das Zelt des Anführers in Brand gesteckt zu haben, als Rache für ihre entfremdeten Eltern. Viola wurde nicht einmal dreizehn Jahre alt, doch ihre Taten werden dem Volk noch lange im Gedächtnis bleiben.
Andere halfen Philia dabei, ihre Juwelen
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