Die Legende vom Weitseher 03 - Die Magie des Assassinen
Vater hat es gewußt. Du besitzt die nötige Stärke. Laß alles hinter dir, Junge. Komm zu mir. Wenn du es immer noch willst. Komm zu mir, und ich werde dir zeigen, was möglich ist.«
Ich erwachte um die Mittagszeit. Von der prallen Sonne, die mir ins Gesicht geschienen hatte, tat mir der Kopf weh, und ich fühlte mich ein wenig zittrig. Ich entzündete ein kleines Feuer, um mir einen Tee aus Elfenrinde zu brühen. Mein Vorrat schwand besorgniserregend dahin, also sparsam mit dem Rest umgehen, vielleicht brauchte ich noch etwas davon – zur Stärkung nach dem Zusammentreffen mit Edels Kordiale. Törichte Hoffnung! Nachtauge beobachtete mich eine Weile blinzelnd, dann döste er wieder ein. Ich schlürfte meinen bitteren Tee, mit Nesseln gestreckt, und schaute in die Ferne. Der bizarre Traum hatte meine Sehnsucht geweckt, Sehnsucht nach einem Zuhause, nach Menschen, die mich liebten. All das hatte ich hinter mir gelassen. Nein, nicht alles. Ich setzte mich neben Nachtauge und legte eine Hand auf seine Schulter. Bei der Berührung lief ein wellenförmiges Zucken über sein Fell. Schlaf, forderte er mich grämlich auf.
Du bist alles, was ich habe, schüttete ich ihm mein Herz aus.
Er gähnte faul. Und ich bin alles, was du brauchst. Jetzt schlaf. Schlafen ist eine ernsthafte Beschäftigung. Ich lächelte und streckte mich neben meinem Wolf aus. Er verströmte wunschlose Zufriedenheit – nach einem guten Mahl ein Nickerchen in der warmen Mittagssonne. Er hatte recht: Es war eine Beschäftigung, die ernst zu nehmen sich lohnte. Ich schloß die Augen und schlief traumlos bis zum Abend.
In den folgenden Tagen und Nächten änderte die Landschaft ihr Gesicht – lichter Mischwald wechselte sich ab mit grasbewachsenen Ebenen. Städte lagen inmitten von Obsthainen und Kornfeldern. Vor Jahren war ich schon einmal durch Farrow gereist, damals mit einer Hochzeitskarawane, und wir hatten den für uns kürzesten Weg quer durchs Land genommen, anstatt dem Fluß zu folgen. Ich war ein selbstbewußter junger Assassine gewesen, auf dem Weg zu einem von der Staatsräson diktierten Mord. Auf jener Reise hatte ich zum erstenmal Bekanntschaft mit Edels Tücke gemacht und diese Erfahrung um ein Haar nicht überlebt. Nun war ich wieder in Farrow unterwegs, um am Ende meiner Reise einen Mord zu begehen. Diesmal jedoch allein und zu Fuß, der Mann, den ich töten wollte, war mein leiblicher Oheim, und das Todesurteil hatte ich aus eigener Vollmacht gefällt. Manchmal erfüllte mich diese Tatsache mit tiefer Befriedigung. Zu anderen Zeiten erschreckte es mich, keine höhere Instanz mehr über mir zu wissen, die mein Tun verantwortete und legitimierte.
Ich hielt das mir selbst gegebene Versprechen und mied die Gesellschaft von Menschen. Wir hielten uns in Sichtweite von Straße und Fluß, doch Ansiedlungen umgingen wir in weitem Bogen. Letzteres war in diesem offenen Gelände schwieriger, als man sich vielleicht vorstellt. Es war eine Sache, sich ungesehen an einem Weiler in den Marken vorbeizustehlen, der in eine Flußbiegung eingeschmiegt inmitten dichter Wälder liegt. Erheblich mehr Geschick erfordert es, sich in einer Landschaft der Weiden und Felder zu bewegen, ohne jemandes Hunde oder Mißtrauen zu wecken. Bis zu einer bestimmten Grenze vermochte ich, Hunde davon zu überzeugen, daß wir nichts Böses im Schilde führten – falls es sich nicht gerade um die bissigsten Köter handelte. Die meisten Hunde auf Bauernhöfen hegen ein ausgeprägtes Mißtrauen gegen Wölfe, das keine Beteuerung unserer Harmlosigkeit einzuschläfern vermochte, und ältere Hunde neigen dazu, einem Menschen, der sich mit einem Wolf eingelassen hatte, den gleichen Argwohn entgegenzubringen. Mehr als einmal mußten wir das Hasenpanier ergreifen. Die Alte Macht verlieh mir die Fähigkeit, mit einigen Tieren zu kommunizieren, doch sie war keine Garantie dafür, daß man mir Gehör oder Glauben schenkte.
Auch die Jagd in diesem offenen Gelände erforderte eine Umstellung. Das Niederwild war von der löchergrabenden Art, die in Völkern zusammenlebt, und die größeren Tiere liefen uns in der Ebene einfach davon. Zeit, die wir beim Jagen vergeudeten, war Zeit, in der wir unserem Ziel nicht näher kamen. Gelegentlich fand ich einen unbewachten Hühnerstall und schlich mich hinein, um die Nester zu plündern. Ich hatte auch keine Skrupel, in den Obstgärten Pflaumen und Kirschen zu stehlen. Unsere ergiebigste Beute war ein unerfahrenes junges Haragar, eins der
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