Die Legende vom Weitseher 03 - Die Magie des Assassinen
sehen. Wahrscheinlich hatte er sich für die Nacht auf einen Baum zurückgezogen. Holly stand vor der Tür und betrachtete uns schläfrig.
»Geht mit Vorsicht, geht mit Bedacht«, ermahnte Rolf uns, nachdem wir ihm gedankt und seine Geschenke eingepackt hatten. »Wandelt auf den Pfaden, die Eda dir geöffnet hat.«
Er verstummte, als erwarte er, daß ich etwas sagte. Offenbar gab es auf diesen Gruß eine übliche Erwiderung, die ich nicht kannte, deshalb wünschte ich ihm einfach alles Gute, und er nickte dazu.
»Du sollst wissen, daß du wiederkommen wirst«, sagte er.
Ich schüttelte langsam den Kopf. »Aber ich danke dir für deine Gastfreundschaft und deinen Rat.«
»Nein. Ich weiß, daß du wiederkommst. Es hat nichts damit zu tun, ob du von mir lernen willst oder nicht. Du wirst merken, daß du meine Unterweisung brauchst. Du bist nicht wie gewöhnliche Menschen. Sie glauben, sie haben ein Recht auf alle Tiere – sie zu jagen und zu essen, sie zu unterjochen und über ihr Leben zu bestimmen. Du weißt, du hast nicht das Recht, Unterwerfung zu fordern. Dein Pferd trägt dich ohne Zwang auf seinem Rücken, genau wie der Wolf aus freiem Willen an deiner Seite jagt. Du besitzt ein tieferes Verständnis von deiner eigenen Stellung in dieser Welt. Du glaubst, du hast das Recht, nicht sie zu beherrschen, sondern Teil von ihr zu sein. Jäger oder Gejagte, beide brauchen sich nicht zu schämen. Mit der Zeit wirst du bemerken, daß du Fragen hast, die einer Antwort bedürfen. Was tun, wenn dein Freund sich einem Rudel seiner Artgenossen anschließen will? Sei versichert, der Augenblick wird kommen. Was soll er tun, gesetzt den Fall, du nimmst eine Frau und hast ein Kind? Wenn für einen von euch die Zeit zu sterben kommt – was unausweichlich ist –, wie findet der andere sich damit ab, und lebt er sein Leben weiter? Irgendwann wirst du dich nach anderen deiner Art sehnen. Du mußt wissen, wie man sie spürt und wie man sie findet. Es gibt Antworten auf diese Fragen, Antworten, die zu verstehen, zu erfassen, mehr braucht als einen Tag oder eine Woche. Du mußt diese Antworten bekommen. Und du wirst zurückkehren, um sie dir zu holen.«
Ich senkte den Blick auf die braune Erde des ausgetretenen Waldpfads. Plötzlich hätte ich nicht mehr schwören mögen, daß ich nie hierher zurückkehren würde.
Hollys Stimme ertönte leise, aber klar aus den Schatten. »Ich glaube an das, was du vorhast zu tun. Ich wünsche dir Erfolg, und ich würde dir helfen, wenn ich könnte.« Rolf und sie schauten sich an. Offenbar ging es um eine Sache, die sie besprochen hatten, ohne sich einigen zu können. »Bist du in Not, rufe mit deinen Gedanken und bitte alle vom Alten Blut, die dich hören, Nachricht an Holly und Terzel in Kräheneck zu senden. Wer deinen Ruf vernimmt, eilt vielleicht herbei, um dir zu helfen, und selbst wenn nicht, werden sie mich von dir wissen lassen, und ich werde tun, was in meiner Macht steht.«
»Wir werden tun, was in unserer Macht steht«, berichtigte er. »Aber du wärst besser beraten hierzubleiben und erst zu lernen, wie du dich schützen kannst.«
Ich nickte zu seinen Worten, war jedoch insgeheim entschlossen, keinen von ihnen in meinen Rachefeldzug gegen Edel hineinzuziehen. Als ich Rolf ansah, lächelte er schief und zuckte die Schultern. »Geht also. Aber seid vorsichtig, alle beide. Bevor der Mond untergeht, verlaßt ihr die Marken und seid in Farrow. Wenn du glaubst, König Edel hätte uns hier unter seiner Knute, warte, bis du in die Gegend kommst, wo die Leute glauben, das wäre sein gutes Recht.«
Ich ruckte grimmig, und dann setzten Nachtauge und ich unseren Weg fort.
Kapitel 7
Farrow
Prinzessin Philia, die Herrin von Bocksburg, wie man sie schließlich nannte, erklomm auf einzigartige Weise die Stufenleiter der Macht. Sie war von vornehmer Herkunft, Tochter eines Landedelmannes, und wurde durch ihre nicht gern gesehene Vermählung mit dem König-zur-Rechten Chivalric ein Mitglied des Königshauses der Weitseher. Niemals zeigte sie Neigung, sich der Macht zu bedienen, die ihr durch Geburt sowie Heirat zu Gebote stand. Erst als Witwe, in Bocksburg fern von Heimat und Familie und als exzentrische Prinzessin Philia Zielscheibe von gutmütigem wie gehässigem Spott, gab sie ihre selbstgewählte Zurückhaltung auf und begann, sich Einfluß zu verschaffen. Sie tat es, wie alles andere in ihrem Leben, auf eine planlose, fahrige Art und Weise, mit der keine andere Frau etwas erreicht
Weitere Kostenlose Bücher