Die Legende von Shannara 01 - Brooks, T: Legende von Shannara 01
diesem plötzlichen Gefühlsumschwung mochte ihre Großmutter abgeleitet haben, dass etwas Wichtiges geschehen war.
Vielleicht hatte sie aber auch nur beschlossen, dass es für ihre Enkelin wieder einmal an der Zeit war, ihr einen Besuch abzustatten.
Oder vielleicht war es auch irgendetwas anderes.
Phryne beschloss, sich dem Anlass entsprechend zu kleiden, und entschied sich für feminine, weitgeschnittene Kleider, von denen sie wusste, dass ihre Großmutter sie gutheißen würde. Sie pflückte noch Blumen im Garten, arrangierte sie in einem Korb, legte ein paar frische Äpfel dazu und machte sich, als ihr nur noch wenige Minuten verblieben, schließlich auf den Weg.
Es war nur ein kurzer Spaziergang die Hauptstraße hinunter, dann über ein paar kleinere Nebenstraßen in ausgetretene Wege, von dort auf Pfade, die sich durch den Wald zwischen den Bäumen hindurchschlängelten, bis sie schließlich verschwanden und man jede Orientierung verlor, sofern man nicht ganz genau wusste, wo man sich befand. Ihre Großmutter war nicht auf Besuche oder dergleichen erpicht und beschränkte sie auf die, mit denen sie vertraut war. Meistens jedenfalls, denn auch jene waren nicht willkommen, wenn sie sich ohne vorherige Einladung einstellten oder ihren beabsichtigten Besuch zuvor nicht angemessen angekündigt hatten.
Ihre Großmutter lebte in einem großen Landhaus im Südosten der Hauptstadt in einem Wald, der ihrer persönlichen Nutzung zugedacht war und eifersüchtig gegen Übergriffe geschützt wurde. Phryne wusste nicht genau, wer die Gartenarbeiten übernahm, weil sie dort nie jemand anderen als die alten Knacker gesehen hatte, aber ihr schwante, dass es nicht ratsam wäre zu versuchen, es herauszufinden. Man munkelte, Mistral Belloruus verfüge über magische Kräfte. Weil Phryne sie seit Monaten nicht besucht hatte, konnte sie wirklich nicht wissen, ob es zurzeit jemanden gab, der die Gartenarbeit erledigte. Ihr hatte es schon ausgereicht zu wissen, dass ihre resolute Großmutter gesund und munter war und immer noch ungebetene Ratschläge an ihre Enkelin sandte.
Dennoch fand sie auch ein gewisses Vergnügen dabei, sie jetzt aufzusuchen, denn sie wusste, dass sie, wenn die Zeit zum Aufbruch kam, nicht nur ihre Versäumnisse frühere Besuche betreffend gutgemacht hatte, sondern sich auch vergewissert hatte, dass mit ihrer Großmutter alles zum Besten stand.
Sie hatte ihrem Vater nicht erzählt, wohin sie ging. Sie hatte sich an die Anweisung im Schreiben ihrer Großmutter gehalten und niemandem gegenüber auch nur ein Sterbenswörtchen verlauten lassen. Hinterher würde sie ihrem Vater allerdings davon berichten, denn auch wenn er es nicht zugab und nur selten von Mistral Belloruus sprach, so bedeutete sie ihm dennoch etwas. Und es machte ihm Kummer, dass sie sich so weit voneinander entfremdet hatten.
Phryne trat auf die Veranda des Hauses und traf dort auf einen der Alten, der neben der Tür in einem Schaukelstuhl saß und seine uralten Augen auf sie richtete, als sie näher kam. Sie konnte sich nicht mehr an seinen Namen erinnern, obwohl sie ihn schon einmal gewusst hatte. Er war klein, bucklig und so verschrumpelt, als wäre er völlig ausgetrocknet. Er senkte den Kopf, als sie die Treppen emporstieg, und flüsterte zur Begrüßung das Wort »Prinzessin«. Sie nickte huldvoll und ging an ihm vorbei durch die geöffnete Haustür.
Im Inneren war alles grau und schattig, die Vorhänge vor den Fenstern zugezogen und die Fensterläden zum Schutz vor der Sonne angelehnt. Im gesamten Haus war es so ruhig und stickig wie in einer Krypta. Es kam Phryne so vor, als versuchte ihre Großmutter sich an das Dasein als Tote zu gewöhnen, aber das war kein freundlicher Gedanke, und sie verscheuchte ihn rasch.
»Großmutter?«, rief sie laut.
»Schlafzimmer!« Die Stimme ihrer Großmutter war viel zu kräftig und barsch für jemanden, der ans Sterben dachte.
Phryne ging den Flur hinunter und an mehreren Räumen vorbei, bis sie schließlich ganz hinten im Haus und an der Kammer ankam, in der ihre Großmutter schlief. Sie erinnerte sich an alles im Haus, obwohl sie schon so lange nicht zu Besuch gewesen war. Die Details waren ihr immer noch so vertraut, dass es sich anfühlte, als sei sie erst tags zuvor zum letzten Mal gegangen. Die Wände schmückten alte Bildteppiche und Gemälde, die überwiegend Arbeiten ihrer Großmutter waren. Das Mobiliar glänzte von frischer Politur, und über die Stuhlrücken und Armlehnen waren bunte
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