Die Legende von Shannara 01 - Brooks, T: Legende von Shannara 01
nächsten Träger fand, worüber er ab und zu nachdachte. Aber seine Pflicht ließ ihm nur wenig Zeit für anderes, und schon gar nicht für die Aufgabe, den Nachfolger zu finden und auszubilden; er hoffte inständig, dass er es noch einige Jahre lang aufschieben konnte.
Er umfasste den schwarzen Stab fester, den Stab, der ihn brandmarkte… als der, der er war, als das, was er war. Er nahm die tief eingekerbten Runen wahr, spürte das Pulsieren der Magie, die sie beherrschten. Zurzeit jedoch verließ er sich nicht sonderlich auf Magie; er hatte auch keinen Grund dazu, dennoch tat es gut zu wissen, dass sie existierte. Die Magie der Worte, die ihm sein Vorgänger weitergegeben hatte, so wie jener sie von seinem Vorgänger bekommen hatte und so fort, fünfhundert Jahre lang. Er kannte die Geschichte seiner Herkunft, so wie jeder sie kannte, der den Stab getragen hatte. Sie alle gaben sie pflichtbewusst weiter. Ließen die Zeiten und Umstände keine ordentliche Übergabe zu, erlernten sie die Worte auf andere Weise. Von den Erfahrungen der anderen, die vor ihm den Stab getragen hatten, wusste der Graue nichts, er kannte nur seine eigenen. Noch nie hatte ihn die Herrin besucht, die dem Schöpfer des Stabes als Stimme diente. Nie war sie in seinen Träumen erschienen, so wie sie es bisweilen bei den anderen getan hatte.
Vor ihm dünnte sich der Wald aus, als die Hänge des Tals langsam anstiegen und auf einen schmalen Spalt weiter oben in der Felswand zuliefen. Dort lag zwischen dem Gestein verborgen der Pass der Declan-Schlucht, der sich zur größeren Welt hin öffnete. In dessen Schutz hatte er am Rand seiner Welt gestanden und hinübergeschaut ins graue Nichts, hatte sich gefragt, wie jene Welt sich wohl seinen Augen darbieten würde, falls er es schaffte, dorthin zu gelangen. Ganz am Anfang hatte er ein oder zwei Mal versucht, den Pass zu überqueren; damals war er noch jung gewesen und nicht davon überzeugt, dass die Dinge wirklich so waren, wie alle behaupteten. Aber seine Bemühungen waren jedes Mal vereitelt worden. Die Nebel sorgten dafür, dass man umkehrte, schickten einen zurück, ganz gleich, wie sehr man dem Pfad vertraute, den man beschritt, und ungeachtet der Entschlossenheit, die man an den Tag legte. Die Magie war unerbittlich, und sie versagte jedem die Passage.
Nun jedoch galt es, auf seine Träume zu hören; und seine Träume sagten ihm, dass sich fünf Jahrhunderte, ein Zeitraum, der ihm zuvor wie eine Ewigkeit erschienen war, ihrem Ende näherten.
Er trat zwischen den Bäumen hervor und machte sich an den Aufstieg. Tags zuvor hatte es geschneit, und der weiße Teppich war vollkommen unberührt. Dennoch nahm er etwas wahr, eine Präsenz, dicht unter dem Schnee versteckt, gerade so den Blicken entzogen. Er konnte nicht sagen, um was es sich handelte, aber es war nichts, was er kannte. Mit wachsender Sorge beschleunigte er seine Schritte. Er kletterte geschwind über Felsen und durch schmale Durchlässe, schmeckte unterwegs prüfend die Luft und strich mit den Händen am Fels entlang. Hier war etwas vorbeigekommen, aus den Höhen herabgestiegen. Vor zwei, vielleicht drei Tagen hatte es sich seinen Weg hinab ins Tal gebahnt. Hinab und nicht hinauf.
Aber von wo herab?
Seine schlimmsten Ängste wurden wahr, als er den Eingang zum Pass erreichte und feststellte, dass seine Schutzzauber nicht einfach nur durchbrochen, sondern geradezu zermalmt worden waren. Diese Zauber waren stark gewesen, ein Netzwerk aus magischen Barrieren, das er selbst dort vor nicht einmal einem Monat platziert hatte. Es waren Schutzzauber derselben Stärke und Widerstandskraft gewesen, wie er sie an jedem dieser Pässe errichtet hatte, die ins Tal führten. Die Sperren sollten ihn vor Brüchen in der Mauer warnen und die Einwohner vor dem Undenkbaren schützen.
Und nun war das Undenkbare da.
Er kniete nieder, um die Umgebung rund um die zerstörten Zauber zu untersuchen, die sich immer noch an die Felsen klammerten, an denen er sie gewirkt hatte. Er wischte über den Schnee und betrachtete den blanken Fels, wo er zutage trat. Er ließ sich Zeit, um sich seiner Wahrnehmungen ganz sicher zu sein. Doch ein Irrtum war ausgeschlossen. Etwas aus der größeren Welt war hindurchgekommen, etwas, das nicht aus diesem Tal stammte. Und worum es sich auch immer handeln mochte, es war nicht allein gekommen. Zwei, so schätzte er, vielleicht ein paar Jäger auf der Suche nach frischer Nahrung. Es mussten große, gefährliche Kreaturen
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