Die Legende von Shannara 02: Die Herrschaft der Elfen
den Wald erreicht, wo sie eine Pause machten, sich hinhockten und zurückblickten. In dem Haus bewegten sich Lichter, zwei oder drei, und sie hörte das Kratzen und Knallen von schweren Stiefeln auf den Holzdielen. Wenn sie es vermocht hätte, hätte sie das Haus verrammelt und die Leute darin gefangen. Sie wurde von zu vielen Emotionen gleichzeitig geschüttelt, als dass sie sie alle einzeln hätte benennen können, also konzentrierte sie sich auf die eine, die am stärksten war, und klammerte sich daran fest.
Wut.
Irgendwann würden Isoeld und alle, die für das, was ihrer Großmutter angetan worden war, die Verantwortung trugen, für ihre Arroganz und ihre überhebliche Verachtung jeglicher Moral bezahlen. Sie, Phryne, würde sie aufspüren und sie jagen. Sie malte sich aus, was sie mit ihnen machen würde, aber während sie das tat, versiegte ihre Wut, und Tränen stiegen ihr in die Augen. Sie wischte sie ab, weil sie nicht wollte, dass der Junge sie weinen sah. Als sie zu ihm hinabblickte, merkte sie jedoch, dass er sie aufmerksam betrachtete.
»Macht Euch keine Sorgen, Phryne, es geht ihr bestimmt gut. Eurer Großmutter, meine ich. Sie ist ihnen sicher entkommen.«
Er versuchte ihre Trauer zu lindern, und sie belohnte ihn für seine Bemühungen mit einem Lächeln. Allerdings war sie nicht überzeugt, dass er Recht hatte. Sie wusste nur, dass ihre Großmutter diesen Avatar mit einer Magie geschaffen hatte, von der Phryne nicht einmal vermutet hatte, dass Mistral sie besaß, und dass sie diesen Avatar zurückgelassen hatte, damit ihre Enkelin wusste, wohin sie gegangen war.
Zum Ashenell. Zur Begräbnisstätte des Elfenvolkes.
Es gab nur wenige Orte im Tal, zu denen sie weniger gern gegangen wäre. Die Grabstätten waren düster, und es spukte dort, es war ein Ruheplatz für die Toten, aber auch ein Reservoir für böse Magie. Geister und Gespenster streiften dort umher, und angeblich gab es eine uralte Stadt tief unter der Erde, in der die Ältesten der Toten begraben lagen. Vor Jahrhunderten, als Arborlon noch in der Cintra lag, waren Kirisin Belloruus und seine Schwester Simralin in diese Grabstätten hinabgestiegen, um die Elfensteine von der Matriarchin des Gotrinclans zu holen: einer geisterhaften Präsenz, die immer noch in der Lage war, die Grenze zwischen den Welten zu überqueren. Phryne wusste ein bisschen von der Geschichte, jedenfalls genug, um sich normalerweise nicht freiwillig in die Nähe dieses Friedhofs zu begeben. Jetzt aber stand sie da und sah sich der Notwendigkeit gegenüber, genau das zu tun.
Selbstverständlich würde sie gehen, ungeachtet ihrer Ängste und Zweifel. Sie hatte keine andere Wahl, es sei denn, sie wollte den Avatar ihrer Großmutter ignorieren und ihre Suche aufgeben. Aber sie liebte Mistral und wusste, dass sie ihr in diesem Punkt auf keinen Fall den Gehorsam verweigern würde.
Wenigstens, sagte sie sich, war sie auf dem Friedhof über der Erde. Sie ging zwischen den Toten herum und stieg nicht zu ihnen hinab, wie Kirisin und Simralin Belloruus dies vor all den Jahren getan hatten. Sie hatte keine Ahnung, was sie tun würde, wenn sie dort war. Genauso wenig wusste sie, was sie dort erwartete. Vielleicht fand sie nur einen Hinweis darauf, wohin sie als Nächstes gehen sollte. Oder aber diesmal wartete Mistral persönlich auf sie und nicht ihr Avatar.
Phryne starrte noch einen Moment auf das Landhaus ihrer Großmutter, beobachtete die Lichter, die sich durch das dunkle Innere bewegten, dann stand sie auf und bedeutete Xac Wen mit einem Winken, ihr zu folgen. Sie traten zwischen die Bäume, wo sie vom Haus aus nicht zu sehen waren, und umkreisten die Kate in sicherer Entfernung. Der Junge folgte ihr, stumm und stets präsent. Sie musste bald etwas seinetwegen unternehmen. Sie konnte nicht zulassen, dass er ihr blindlings folgte. Er hatte sich bereits mehr als genug in Gefahr gebracht, nur um ihr zu helfen, und es wurde Zeit, dass er sich in Sicherheit brachte.
»Gehen wir zu den Friedhöfen?«, flüsterte er, als sie weit genug von dem Haus entfernt waren und über schmale Pfade zurück zur Stadt gingen.
Sie warf ihm einen Blick zu. »Ich sollte allein gehen, Xac.«
»Damit ich nicht in Gefahr gerate?«, riet er.
»Ganz genau, damit du nicht in Gefahr gerätst. Ich weiß, was du wegen der Orullians sagen willst, aber sie können nicht von dir erwarten, mehr zu tun, als du bereits getan hast. Du musst nach Hause gehen und mich von hier aus alleine weitermachen
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