Die Legende
noch einmal um. »Eins sollst du wissen, du rundäugiger Bastard. Ich war es, Ogasi, der deine Frau tötete.«
Es dauerte ein paar Sekunden, ehe Rek die Tragweite dieser Worte bewußt wurde. Dann holte er tief Luft und zog die Handschuhe aus.
»Glaubst du, das spielt eine Rolle, inmitten von all diesem?« fragte Rek. »Zu wissen, wer den Pfeil abschoß? Willst du, daß ich dich hasse? Das kann ich nicht. Vielleicht morgen. Oder nächstes Jahr. Vielleicht auch niemals.«
Einen Moment blieb Ogasi schweigend stehen; dann zuckte er die Achseln.
»Der Pfeil war für dich bestimmt«, erklärte er. Müdigkeit legte sich über ihn wie ein dunkler Mantel. Er machte auf dem Absatz kehrt und folgte den abziehenden Kriegern. Schweigend kletterten sie die Leitern und Taue hinab - niemand wählte den Weg durch den Tunnel.
Rek schnallte die Brustplatte ab und ging langsam zum Tunneleingang. Druss und die Dreißig kamen ihm entgegen. Rek hob die Hand zum Gruß, aber ein Windstoß verwandelte die Gestalten in Nebel, der verwehte.
»Lebewohl, Druss«, sagte er leise.
Später an jenem Abend verabschiedete Rek sich von den Sathuli und schlief ein paar Stunden, in der Hoffnung, Virae noch einmal zu begegnen. Er erwachte erfrischt, doch enttäuscht. Arshin brachte ihm eine Mahlzeit, und er aß gemeinsam mit Bowman und Orrin. Sie sprachen nur wenig. Calvar Syn und seine Helfer hatten Hoguns Leichnam gefunden, und der Arzt arbeitete wie besessen, um die Hunderte von Verwundeten zu retten, die ins Geddon-Lazarett geschafft wurden.
Gegen Mitternacht ging Rek in sein Zimmer und legte die Rüstung ab. Dann erinnerte er sich an Serbitars Geschenk. Er war eigentlich zu müde, sich darum zu kümmern, aber der Schlaf wollte sich nicht einstellen, und so stand er wieder auf, zog sich an, nahm eine Fackel aus einem Wandhalter und stieg langsam in die Tiefen der Festung hinab. Die Tür zu Egels Raum war wieder verschlossen, aber für ihn öffnete sie sich wie zuvor.
Die Lichter im Innern flackerten, als Rek seine Fackel an die Wand lehnte und eintrat. Ihm stockte der Atem, als er den Kristallwürfel erblickte. Darinnen lag Virae! Ihr Körper war makellos, ohne eine Pfeilwunde aufzuweisen. Sie lag nackt und friedlich da, als ob sie schliefe, in dem durchsichtigen Würfel schwebend. Er ging hin, griff durch den Kristall hindurch und berührte sie. Sie regte sich nicht, ihr Körper war kalt. Er beugte sich vor, hob sie hoch und legte sie auf einen Tisch. Dann zog er seinen Mantel aus, wickelte sie hinein und nahm sie wieder auf den Arm. Er nahm die Fackel und ging langsam zurück in sein Zimmer über der Halle.
Er rief Arshin, und der alte Diener erbleichte, als er die reglose Gestalt der Gemahlin des Grafen erblickte. Er sah Rek an; dann senkte er den Blick.
»Es tut mir leid, Herr. Ich weiß nicht, warum der Weißhaarige sie in den magischen Kristall gelegt hat.«
»Was ist geschehen?« fragte Rek.
»Prinz Serbitar und sein Freund, der Abt, kamen zu mir, am Tag, als sie starb. Der Abt sagte, er hätte einen Traum gehabt. Er wollte es mir nicht erklären, aber er sagte, es wäre wichtig, daß der Körper meiner Herrin in den Kristall gebettet würde. Er sagte etwas über die QUELLE ... ich habe es nicht verstanden. Ich verstehe es immer noch nicht, Herr. Lebt sie, oder ist sie tot? Und wie hast du sie gefunden? Wir legten sie auf den Kristall, und sie sank sanft hinein. Doch als ich ihn berührte, war er fest. Ich verstehe überhaupt nichts mehr.« Tränen standen in den Augen des alten Mannes, und Rek ging zu ihm und legte ihm eine Hand auf die Schulter.
»Es ist schwer zu erklären. Hol Calvar Syn. Ich warte hier mit Virae.«
Ein Traum von Vintar - was konnte das bedeuten? Der Albino hatte gesagt, es gäbe viele Morgen, und niemand könnte sagen, welches eintrat. Aber er hatte offensichtlich eine Zukunft gesehen, in der Virae lebte, und befohlen, daß ihr Körper bewahrt werden sollte. Und irgendwie war die Wunde in dem Kristall verheilt. Aber hieß das, sie würde leben?
Virae leben!
Seine Gedanken schreckten davor zurück. Er konnte weder denken noch fühlen; sein Körper war taub.
Ihr Tod hatte ihn fast umgebracht, doch jetzt, wo sie wieder hier war, hatte er Angst zu hoffen. Wenn das Leben ihn eins gelehrt hatte, dann die Tatsache, daß jeder Mensch eine Schwachstelle hatte. Er wußte, daß er jetzt der seinen ins Gesicht sah. Er setzte sich ans Bett und nahm ihre kalte Hand. Seine eigene zitterte vor Anspannung. Er suchte nach
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