Die Legenden der Albae: Die Vergessenen Schriften (German Edition)
unendlicher Abgrund auftat?
Saphôra hatte schon einiges in ihrem Leben als Kriegerin erlebt und überstanden, aber in einer solch ausweglosen Lage befand sie sich zum ersten Mal.
»Ich werde versuchen«, rief Ôdaras zu ihr hinab, »emporzuklettern, an dem Stein hinauf, bis zur Decke.«
»Willst du dich mit dem Schwert nach oben durchgraben?« Ihr tat der Spott sogleich leid.
»Wenn die Decke ähnlich nachgiebig ist wie der Boden, könnte ich mich durchhacken, und du kannst mir danach folgen«, erklärte er. »Ich binde das Seil zu meiner Sicherung um, dann kann nichts geschehen, außer einem schmerzhaften Ruck nach einem kurzen Fall.«
»Was, wenn deswegen die Decke einbricht und uns in die Tiefe reißt wie Deinôa?« Sie sah, wie Ôdaras das Seilende zu sich zog.
»Wie lange willst du hier hängen?«, erwiderte er herausfordernd. »Unsere Kräfte werden schwinden und dann fallen wir. Lieber komme ich bei dem Versuch um, einen Ausweg zu finden.«
»Du hast recht. Ich sollte das auch versuchen. Mal sehen, wer von uns beiden zuerst nach oben durchgestoßen ist.« Saphôra klemmte die Fackel zwischen die Zähne und umfasste das Seil mit beiden Händen, um weiter nach oben zu klettern.
Sie hatte sich zwei Schritte nach oben gearbeitet, als es einen Ruck gab.
Saphôra hielt inne und starrte hinauf. Die Schlinge war abgerutscht und hatte an einer tieferen Gesteinsnase erneut Halt gefunden. Samusin, mein Dank ist dir gewiss, dachte sie erleichtert.
Doch das Aufatmen währte kurz: Das Seil glitt unablässig über den feuchten Stein nach unten, wie sie spürte.
Sie nahm die Fackel aus den Zähnen. »Ich muss übersteigen«, rief sie hastig und versetzte sich in Pendelbewegungen. Sie musste in Kauf nehmen, dass die Schlinge dabei abrutschte oder der Stalaktit unter der Belastung abbrach.
»Was meinst du damit?«
»Das Seil hält nicht länger«, sprach sie abgehackt, steckte sich die Fackel erneut zwischen die Zähne und nahm wieder Schwung. Es dauerte viel zu lange, bis sie in greifbare Nähe von Ôdaras Seil gelangte.
Bei der nächsten Vorwärtsbewegung verlor die Schlinge den Halt.
Saphôra ging ungewollt in den freien Fall über. Ich werde nicht in die Endlichkeit ziehen!
Sie streckte die Arme aus – und bekam den letzten Zipfel des zweiten Seils zu fassen.
Sie packte zu und hielt sich fest.
Durch ihr heftiges Übersteigen verursachte sie ein Pendeln, was Ôdaras mit einem lauten Fluch bedachte. Der Qualm der Fackel brannte in ihren Augen, aber sie war nicht gewillt, die kärgliche Lichtquelle aufzugeben.
»Nicht bewegen«, schrie der Alb zu ihr hinab. »Das Schwingen lockert sonst auch diese Schlinge.«
Sicherlich. Saphôra verdrehte die Augen und erklomm so behutsam wie möglich den Strick. Sie wollte sich auf die gleiche Höhe wie Ôdaras begeben, um zu verhindern, dass er das Seil kappte und sie dem Untergang preisgab.
»Hast du nicht gehört!? Du sollst warten!«
Saphôra erreichte ihn und hing Auge in Auge mit Ôdaras, dann nahm sie die Fackel aus dem Mund. »Hier ist es mir lieber. Da fühle ich mich weniger alleine«, sprach sie mit ätzendem Unterton.
Beide sahen hinauf, zur Schlinge und zum Stalaktiten.
»Anseilen werde ich mich nicht mehr können«, schätzte der Alb.
» Einer von uns wird es können«, verbesserte sie. »Bist du ein guter Kletterer?«
»Gut genug, um an einem nassen, brüchigen Kalkstein zu hängen und mich sicher dabei zu fühlen?« Er blickte ihr in die Augen. »Ebenso wenig wie du.«
»Du schlägst vor, dass sich keiner von uns beiden absichert und die Götter entscheiden sollen?«, erriet Saphôra seine Gedanken.
»Das wäre ausgewogen.«
»Aber du stammst aus Dsôn Sòmran. Ich dachte, du seist das Klettern gewohnt?«
»Wir hatten Treppen, Rampen und Fahrstühle«, erwiderte Ôdaras trocken und war offenkundig nicht gewillt, ihr das Seil ohne Weiteres zuzusprechen.
Saphôra sah hinauf. Bis zur Decke waren es geschätzte dreißig Schritte an dem glitschigen Stalaktiten hinauf. »Bevor wir uns die Mühe machen, sollten wir prüfen, ob es nicht sinnvoller ist, zum Eingang des Tunnels zu steigen.«
»Wo die Bestie lauert«, fügte er an.
»Sie zeigte sich nicht und lärmte lediglich«, dämpfte sie seinen Einwand. »Sie wird annehmen, dass wir abstürzten.«
»Die meisten Scheusale verfügen über einen guten Geruchssinn. Warum sollte es bei diesem anders sein?« Ôdaras nickte nach unten. »Es wird regungslos lauern und abwarten und hoffen, dass wir dumm
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