Die Legenden der Albae: Die Vergessenen Schriften (German Edition)
langen Kalkgebilde aus der Decke löste und senkrecht nach unten schoss.
Er bohrte sich durch den nachgiebigen Boden und hinterließ ein Loch, das sich rasch nach allen Seiten ausdehnte; dabei klirrte und rasselte es, als würden Münzen auf einen Haufen geschüttet.
»Deinôa!«, schrie Saphôra und löste das Seil von ihrem Rucksack. »Nach oben!«
Auch Ôdaras bereitete sich vor, eine Schlinge um die nächstliegende Gesteinsnadel zu werfen und sich vor dem heranrasenden Abgrund zu retten. Die weiße Oberfläche sah glatt und feucht aus. Das Seil wird nicht richtig halten. Aber welche Wahl haben wir?
Mit Geschick und eiskalter Ruhe schleuderte der Alb sein Seil in die Höhe, und ihm gelang das Kunststück: Die Schlinge legte sich um die fragile Spitze und zog sich zu, hielt vorerst.
Ôdaras warf seinen Rucksack ab, um das Gewicht und damit die Belastung für den Stalaktiten zu mindern, und klammerte sich an das Seil. Gerettet!
Auch Saphôra schaffte es im zweiten Versuch. Sie hing am Strick, hielt in einer Hand die Fackel, während die Höhle unter ihnen wegsackte und in scheinbar unendliche Tiefen stürzte. »Deinôa«, schrie sie. »Beeil dich!«
Sie verfolgten, wie die schwarzhaarige Albin ihr Seil immer wieder schleuderte, aber es wollte nicht greifen. Die Fasern rutschten ab, die Schlinge zog sich zu spät zu, während der Abgrund unaufhörlich klirrend und rasselnd auf sie zukam.
Sie muss es schaffen! Inàste, stehe deinem Kind bei! Ôdaras pendelte über der Schwärze und sah zum Durchgang, ob sich die Bestie zeigte.
Endlich gelang es Deinôa, und ihr Seil hielt. »Die Endlichkeit verschonte mich heute noch«, rief sie erleichtert zu ihnen hinüber – da löste sich der Kalkstein und rauschte mitsamt dem Seil abwärts. Die Albin hatte es geistesgegenwärtig losgelassen, sodass sie nicht mit hinabgerissen wurde.
Doch bevor sie etwas unternehmen konnte, brach ein weiterer Stalaktit ab und rauschte auf sie hinab.
Deinôa wich dem Geschoss aus, sprang auf einen der aufragenden Steine, aber der Einschlag riss den Boden weg und machte den Stalagmiten zu einer einsamen Insel, umschlossen von Untergang. Der vermeintlich sichere Zufluchtsort der Albin neigte sich ganz langsam nach links, in Richtung des Abgrunds. Nun gab es kein Entrinnen mehr.
Ôdaras atmete aus und biss die Zähne zusammen. Verdammte Elben! Ich werde eurem Hinterhalt entkommen, um euch zu jagen, ganz gleich, an welchen Ort mich das führen wird.
Deinôa sah hinüber zu ihnen und hob die Hand zum Abschied, dann stürzte sie mitsamt des Stalagmiten in die Dunkelheit.
Und kaum war die Albin verschwunden, endete die Zerstörung.
Die Auflösung des Bodens verebbte, als habe ihr Opfer den Berg beschwichtigt. Ein schmaler Sims befand sich gegenüber der Stelle, an der die beiden Albae am Seil hingen.
Der Rand von einem Schritt Breite blieb zwar unerreichbar für sie, aber die Erkenntnis war schmerzhaft: Wäre Deinôa auf der anderen Seite der Höhle stehen geblieben und bis zur Wand zurückgewichen, hätte sie überlebt.
»Alsdann führte Artâgon
sie in eine weitere Schlacht.«
Tark Draan (Geborgenes Land), nordwestlich von Dsôn Bhará, 5434. Teil der Unendlichkeit (6310. Sonnenzyklus), Frühling
»Ist das da unten ein Elb?« Anthôras sah in die Schlucht, auf deren Grund sie einen dunklen Umriss erkannten, der sich nicht rührte.
Es hatte aufgehört zu schneien, der Wind hatte die Wolken verjagt und gab im Schein der untergehenden Sonne den Blick auf den Gipfel der Zackenkrone frei.
Doch gerade gab es Wichtigeres als ihr Ziel.
Anthôras, der Barbarenjunge, Artâgon und Modôia standen am Anfang einer freitragenden Eisbrücke, die über eine zwanzig Schritt breite Spalte führte. Das Loch, durch das der Elb wiederum gefallen sein mochte, lag keine vier Schritte von ihnen entfernt.
Modôia kniff die Augen zusammen. »Ich denke, es ist eine Elbin.«
»Damit wären gleich zwei Leben beendet. Gut«, sagte Artâgon. »Aber wir sollten sichergehen, dass sie tot ist. Sie könnte uns glauben machen wollen, sie sei abgestürzt, um uns zu entkommen oder uns hinterrücks anzugreifen.« Er wandte sich an Phasâlor. »Geh zurück und hol die anderen. Sie sind auf eine falsche Spur gelockt worden.«
Phasâlor nickte und eilte den Weg zurück, den sie gekommen waren.
»Ich sorge für Gewissheit.« Anthôras nahm seinen Speer, nahm Maß und schleuderte ihn.
Das Geschoss flog genau auf den ausgestreckten Körper zu und drang in den Rücken
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