Die Legenden der Albae: Die Vergessenen Schriften (German Edition)
Oudwen an, das sich in den letzten Sonnenreisen ein großes Stück Land sicherte und seinen Einfluss gewaltsam ausweitete, nachdem sich die Welt durch den Silbernebeldämon gewandelt hatte. Niemand wollte auf dem Boden bleiben, den das Wesen mit seiner Macht vergiftet. Dabei nahmen die Oudwen keinerlei Rücksicht, weder auf Barbaren noch andere Bestien.
Dass ihnen die Eroberungen und die Behauptung ihres Besitzes gelang, lag an einem unschlagbaren Vorteil ihrer Art: zahlreicher Nachwuchs.
W’shar und Reg’sain schritten nebeneinander her und näherten sich ihrem Zuhause.
Pt’rai war rings um einem kegelförmigen Hügel erbaut; um den Fuß der Erhebung zog sich eine hohe, starke Mauer. Noch bestanden die meisten Häuser aus Holz, die Gründung der Stadt lag nicht allzu lange zurück. Es würde dauern, bis die Stämme gegen massive Steinquader ausgetauscht sein würden. Allein die schützende Mauer bestand aus massiven Granitblöcken.
»Ich verlange die Schinken«, betonte Reg’sain und tätschelte die blutüberströmten Schenkel des Ishmanti, auf dem das Rot bereits getrocknet war.
W’shar wollte etwas erwidern, doch ein erschreckender Anblick forderte seine Aufmerksamkeit: Das massive Tor in der Mauer stand nicht einfach nur offen – es war regelrecht zersprengt, als wären fünf Rammböcke auf einmal dagegen geschmettert worden. »Sieh doch!«
Reg’sain wandte den Blick nach vorne, zischte einen Fluch und warf den erjagten Barbaren achtlos an den Wegesrand. »Ein Angriff! Wieso haben wir das Signalhorn nicht vernommen?«
»Zu weit weg?«
Sie schnallten sich die Köcher um, nahmen die Bögen zur Hand und huschten voran, auf den Eingang der Stadt zu.
Behutsam arbeiteten sich die beiden Oudwen durch das zerstörte Tor, stiegen über die hölzernen und metallenen Trümmer hinweg und an Toten vorbei, die halb darunter begraben lagen. Das Ende war diesen durch eine breite Klinge gebracht worden: In den Brustkörben klafften Einstiche, das ausgetretene grünlichblaue Blut sammelte sich in Pfützen und Bahnen um sie herum. Der süßlich-holzige Duft schien allgegenwärtig.
W’shar und Reg’sain tauschten einen raschen Blick. Die Wundenform kannten sie, doch wollte es keiner der beiden glauben. Die Oudwen hatten geglaubt, in Sicherheit zu sein. Die vernichtende Arbeit der Schwarzaugen an den Völkern, die hier einst lebten, erwies sich als nicht gründlich genug.
»Sind sie noch da?«, zischelte Reg’sain und schien nicht weiter in die schrecklich stille Stadt vordringen zu wollen. Am Himmel zogen Aasfresser zögerlich ihre Kreise, mutigere Rabenvögel hopsten krächzend zwischen den Leichen umher und zupften am weichen Fleisch, rupften Augenlider ab und hackten mit spitzen Schnäbeln durch Haut, labten sich am Blut.
W’shar erwiderte nichts und hielt den Bogen gespannt, um sofort schießen zu können, sollte sich einer der gefürchteten Angreifer blicken lassen.
Er lauschte, doch es rührte sich nichts.
Dreißigtausend Oudwen hatten sich einst in Pt’rai niedergelassen, und die Brutkammern mit den Eiern versprachen binnen einer halben Sonnenreise weitere vierzigtausend. Doch
W’shar brauchte die Gelege nicht prüfen. Er wusste, dass sie vernichtet waren. Vernichtet wie jeder und jede Oudwen – bis auf ihn und seinen Freund. Ihre Leben verdankten sie dem kleinen Jagdausflug.
Reg’sain züngelte. »Es riecht merkwürdig hier.«
»Das ist das Blut.«
»Nein. Etwas anderes. Es riecht nach … Talg. Talg und eine Beimischung.« Er schlich vorwärts, die blaue Zunge zuckte zwischen den Lippen hervor. Vorsichtig bog er um die Ecke in die breite Straße, die auf den Umschlagplatz für Waren zuführte, dann war er aus W’shars Sicht verschwunden.
Der Oudwen wartete angespannt darauf, dass sein Freund ihn zu sich rief oder zurückkehrte.
Nichts dergleichen geschah.
Die Angreifer befanden sich also noch in der Stadt, aus der sie jegliches Leben getilgt hatten. W’shar rechnete nicht damit, Reg’sain lebend wiederzusehen; daher schob er sich langsam rückwärts, den Bogen angehoben und gespannt.
Sein Stiefel blieb an einem Holzstück hängen; das Trümmerteil verrutschte und verursachte einen unsäglichen Lärm.
»Was treibst du denn?«, erklang Reg’sains Stimme, und sein Freund tauchte vor ihm auf. Er hatte den Bogen auf den Rücken gehängt, in der Rechten hielt er einen Stock, an dem eine weißlich-grüne Substanz haftete.
»Wo warst du so lange?«, erwiderte W’shar ungehalten und
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