Die Legenden der Blauen Meere, Band 1: Dreckswetter und Morgenröte (German Edition)
Percy auf den Tod nicht ausstehen konnte, war mir natürlich klar, dass er seine Bücher mitnehmen würde, wenn er den Abgang machte. Und seine Bücher liebte ich wirklich. Es waren insgesamt einhundertsiebenunddreißig, und irgendwann hatte ich sie alle mindestens ein Mal gelesen, sogar die schrecklichen.
Ich lernte erstaunliche Dinge: nicht nur das unmittelbar Nützliche wie zum Beispiel die Essgewohnheiten von Pferden (kein Fleisch, vor allem kein Menschenfleisch, auch nicht, wenn es durch den Fleischwolf gedreht worden war) und den wahren Grund, weshalb Meerwasser salzig ist (ich hab ihn vergessen, aber es liegt definitiv nicht an der Fischkacke). Zum ersten Mal in meinem Leben wurde mir bewusst, dass jenseits meiner Welt noch eine ganz andere lag. Allein auf dem Kontinent gab es Städte und Länder und Könige und Schlösser, die schon Tausende Jahre alt waren.
Es stellte sich nicht nur heraus, dass Dreckswetter bloß ein zerklüfteter kleiner Fliegenschiss mitten in den Blauen Meeren war, ein paar Hundert Kilometer östlich der unermesslichen Wildnis der Neuen Länder. Selbst Morgenröte – die Insel, die mir immer wie der reiche und umtriebige Mittelpunkt des Universums vorgekommen war, wenn wir zweimal pro Jahr an Feiertagen oder zum Einkaufen dorthin fuhren – erschien in der Geografie der Welt gerade mal in der untersten Ecke der Karte von den Fisch-Inseln. In der Neuen Geschichte des Königreichs Rovien und seiner Hoheitsgebiete war es gar nicht erst aufgeführt.
Von dem Augenblick an, als ich anfing, etwas über die große weite Welt zu erfahren, lag ich nachts in meiner kleinen fensterlosen Kammer neben der Küche wach und malte mir aus, wie es wohl wäre, ein Teil davon zu sein – ein bedeutungsvolles Leben zu haben, jemand zu sein und Dinge zu tun, die es wert wären, in Büchern erzählt zu werden.
Doch ich glaubte nicht eine Sekunde, dass das tatsächlich möglich sein könnte. Ich war nicht von edler Herkunft oder reich oder tapfer oder stark oder wenigstens klug – nichts von dem, was die Figuren in den Romanen und die Menschen in den Geschichtsbüchern so besonders machte.
Ich wusste, dass die Welt dort draußen existierte. Ich sah bloß keinen Platz für mich darin. Und selbst wenn es ihn gab, hatte ich keine Ahnung, wie ich ihn finden sollte.
Dass er von selbst zu mir kommen könnte, kam mir nie in den Sinn – oder dass sich mein Leben eines Tages von Grund auf und für immer ändern würde, obwohl ich keinen Finger dafür krümmte.
Aber es passierte. Und zwar so:
Es begann mit Dads Gesichtsausdruck. Ich war im Garten und las im schmalen Nachmittagsschatten hinter dem Holzstapel ein Buch. Ich hatte gerade aufgehört, Scheite für Quints Küchenfeuer zu spalten, und wollte mir ein paar Minuten Ruhe gönnen, bevor ich das Feuerholz ins Haus schleppte.
Dad war den Berg hinaufgegangen, um die Kanone auf dem Felsen des Verderbens zu putzen, und ich rechnete erst am Abend mit seiner Rückkehr. Als ich aufblickte und ihn kommen sah, durchzuckte mich deshalb kurz die Angst, dass er mir eine knallen könnte, weil ich faul herumlag.
Das tat er ständig. Aber anders als bei Adonis machte ich ihm daraus keinen Vorwurf, denn im Gegensatz zu meinem Bruder schien es Dad kein großes Vergnügen zu bereiten, mich zu verhauen – er wollte bloß klarstellen, dass es Arbeit zu erledigen gab. Er selbst arbeitete ununterbrochen, nur manchmal kurz vor Sonnenuntergang setzte er sich für ein paar Minuten allein auf die hintere Veranda und starrte traurig auf die Rauchfäden, die aus dem Vulkan aufstiegen. Es war eine schmerzliche, untröstliche Art von Traurigkeit und sie gab mir ein schreckliches Gefühl, denn ohne nachzufragen, wusste ich, dass er an meine Mutter dachte.
Die meiste Zeit sah er jedoch nicht traurig aus – bloß grimmig und entschlossen. Und wenn er mich bei etwas Verbotenem erwischte – wie am helllichten Tag neben einem Holzstapel herumzusitzen und zu lesen –, blitzten seine Augen vor Zorn, und dann setzte es was.
Doch dieses Mal gab es kein wütendes Blitzen. Er sah mich nicht einmal an – weder mich noch irgendwas anderes. Seine Augen hatten einen verdutzten, entrückten Ausdruck, als hätte er etwas vergessen und versuchte sich daran zu erinnern, wo er es hingelegt hatte.
Ich hatte das Buch schon halb hinten in meine Hose gestopft und sammelte eilig Holz ein, als er ein paar Meter entfernt stehen blieb und mich anstarrte.
»Ey – haste da Papier drin?«, fragte
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