Die Legenden der Blauen Meere, Band 1: Dreckswetter und Morgenröte (German Edition)
Mannschaft dort drinnen schlief, wäre es fatal gewesen, ihn zu wecken. Doch Hunger und Durst überzeugten mich, das Risiko einzugehen. Ich nahm eine Öllampe von der Wand und öffnete erneut die Tür.
Es war die Kombüse – sie war riesengroß und vom Boden bis zur Decke vollgestopft mit Fässern, Dosen und Gefäßen. Es gab Schränke und an einer Wand stand ein gigantischer Herd, dessen dickes Abzugsrohr in der Decke verschwand, und in der Mitte des Raums lag eine lange, robuste Tischplatte über ein paar niedrigen Schränken.
Ich fing mit den Fässern an. Das erste, das ich öffnete, enthielt eine zähe Flüssigkeit, vermutlich Speiseöl. Das zweite jedoch war mit Wasser gefüllt, ich beugte mich darüber, schöpfte mit den Händen und trank, bis mein Bauch gegen den Gürtel drückte.
Danach wandte ich mich dem Essen zu. In einem großen Metallbehälter fand ich einen Vorrat an Salzfisch, wovon ich in wenigen Minuten ein Pfund herunterschlang, ohne mir auch nur die Mühe zu machen, zu kauen.
Nach dem Wasser und dem Essen fühlte ich mich so viel besser, dass ich für einen Augenblick meine Angst vergaß – das Zusammenleben mit den Pembrokes hatte mich offenbar zu der Annahme verleitet, mir stünden all die Annehmlichkeiten zu, die die Gören vom Batteriedeck Abend für Abend genossen.
Statt also vernünftig zu sein und mich wieder nach oben zu schleichen, begab ich mich auf die Suche nach Nachtisch.
Vermutlich würde es keinen Marmeladenkuchen geben, aber irgendwelche Süßigkeiten mussten sie doch haben. Und siehe da – auf einem Regalbrett weit oben stand eine große quadratische Schachtel mit der Aufschrift SCHOKOLADE in großen Druckbuchstaben. Keines der anderen Nahrungsbehältnisse war so beschriftet, und das hätte mir eigentlich eine Warnung sein sollen.
Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und zog die Schachtel vom Brett.
Ein Dutzend leere Blechbüchsen, die am hinteren Ende der präparierten Schachtel festgebunden waren, flogen in hohem Bogen hinterher. Ohrenbetäubendes Geschepper erfüllte den Raum. Hätte ich eine Kiste Kanonenkugeln auf den Boden fallen lassen, es wäre leiser gewesen.
Offensichtlich hatten die Gören vom Batteriedeck hier schon vor mir ihr Unwesen getrieben und dieses Mal hatte der Koch seine Vorkehrungen getroffen.
Allerdings dachte ich in diesem Moment weder daran noch an sonst irgendwas, sondern suchte in blinder Panik nach Deckung. Ich war schon fast aus der Küche, da hörte ich, wie sich irgendwo hinter mir eine Tür öffnete und jemand »Stehen bleiben!« brüllte, doch ich drehte mich nicht um.
Im Speisesaal flitzte ich die nächstbeste Treppe hinauf, indem ich zwei Stufen auf einmal nahm. Doch wer immer mir hinterherjagte, war wesentlich schneller als ich – als ich an den höher gelegenen Kabinen vorbeirannte, hatte er mich schon fast am Kragen.
Ich versuchte, drei Stufen auf einmal zu nehmen, doch beim zweiten Sprung verdrehte ich mir mein verletztes Knie und stürzte.
Da war er schon über mir: Ein dicker Mann umklammerte mich mit fleischigen Händen.
»Wie heißt du?«
»James Basingstroke.« Hoffentlich las er keine Romane.
Er musterte mich mit zusammengekniffenen Augen, nicht nur mein Gesicht, sondern auch meine Kleider, vor allem die Blut- und Dreckflecken auf meinem Hemd.
»Kabine?«
Ich gab keine Antwort. Er schüttelte mich mit seinen dicken Armen.
»Sag mir die Nummer!«
»Sechs.«
Da er nicht überzeugt wirkte, fügte ich hinzu: »-zehn.«
»Sechzehn? Richtig??«
»Ja. Und mein Vater wird Sie verklagen, wenn Sie mich nicht loslassen!« Ich kniff die Augen zusammen und gab mir die größte Mühe, wie ein arroganter, reicher Schnösel auszusehen. Was sollte ich sonst tun?
Er lachte. Mir rutschte das Herz in die Hose.
»Ach, dann ist dein Vater also … Lady Cromby von Esqueth?«
Er stieg die Treppe hinauf und zerrte mich hinter sich her. »Dann gehen wir doch mal zum Chef.«
Zehn Minuten später saß ich mit auf dem Rücken zusammengebundenen Händen in einer elegant ausgestatteten Kabine auf dem Achterdeck und wurde von einem Mann angestarrt, den der Koch mit Mr Pilcher ansprach. Er war gewaltig, nicht nur, was seine Größe anbelangte – seine Worte und Bewegungen waren pathetisch und übertrieben, als spiele er in einem Theaterstück und müsse sichergehen, dass auch Zuschauern in den letzten Reihen nichts entging.
Er war nicht glücklich darüber, geweckt zu werden – als er seine Kabinentür öffnete und uns dort im
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