Die Legenden der Blauen Meere, Band 1: Dreckswetter und Morgenröte (German Edition)
feuchten Nebel stehen sah, hatte er dem Koch eine so erboste Standpauke über sein Schlafbedürfnis gehalten, dass ich schon dachte, es würde in körperlicher Gewalt enden.
Doch sobald ihm der Koch alles erklärt hatte, schien er Gefallen an der Situation zu finden. Es war seine Idee, meine Hände zu fesseln, er gab dem Koch sowohl die Schnur als auch sehr detaillierte Anweisungen, wie er sie einsetzen sollte.
Nun baute er sich in einem Nachtgewand aus cremefarbener Seide, das wie ein Zelt um ihn herumhing, vor mir auf, seine Augen quollen unter den dichten Augenbrauen vor.
»Sag mir doch mal, du dreckiger kleiner Dieb – was hast du ohne Fahrkarte auf meiner Kreuzfahrt zu suchen?«
Ich hatte keine Ahnung, was ich darauf antworten sollte. Auf keinen Fall die Wahrheit – Roger Pembroke war einer der Eigentümer der Irdischen Freude , was diesen Mann zu einem weiteren Pembroke-Angestellten machte. Da ich mich jedoch offensichtlich auf Morgenröte an Bord geschmuggelt hatte, musste ich mir irgendwas einfallen lassen.
»Hallooooooo? Jemand zu Hause?« Er klopfte mir leicht mit den Fingerknöcheln gegen den Kopf. Ich sah zu ihm hoch. Er wackelte mit den buschigen Augenbrauen, was so lächerlich komisch aussah, dass ich mich nur schwer auf meine Antwort konzentrieren konnte.
»Ich war … Schiffsjunge. Auf einem Schiff. Das in Selighafen vor Anker lag. Der Kapitän war grausam und gemein … und –«
»Was für ein Schiff?« Er fasste mir unters Kinn und hielt es hoch, so dass ich ihm in die irre hin und her zuckenden Augen schauen musste. »Hmm? War es ein Handelsschiff? Oder vielleicht –«
Er zuckte plötzlich zurück, schnappte nach Luft und schlug die Hand vor den Mund.
»Oh nein …« Er wandte sich mit einem breiten Lächeln zum Koch. »Mir ist gerade eine geniale Idee gekommen! Behalten Sie ihn im Auge. Bin gleich wieder da.«
Er warf einen langen pelzgefütterten Mantel über und stürzte aus der Kabine. Ein paar Minuten später kam er mit einem anderen Mann zurück – der war groß, ging vornübergebeugt und hatte einen angegrauten Bart. Er trug einen schlichten Paletot aus Wolle und war noch immer damit beschäftigt, sich die Hose zuzuknöpfen.
Pilcher schickte den Koch mit einem kurz angebundenen Befehl los, sich ums Frühstück zu kümmern.
»Käpt’n Lanks, darf ich Ihnen unseren Piraten vorstellen?«
»Ich bin kein Pirat«, widersprach ich.
»Jetzt bist du einer«, erklärte Pilcher.
Der Kapitän sah von mir zu Pilcher, dabei blinzelte er noch den Schlaf aus den Augen. »Das ist kein Pirat. Der ist zu wohlgenährt. Und hat nicht genug Narben.«
Pilcher verdrehte die Augen. »Käpt’n, lassen Sie Ihre Vorstellungskraft spielen! Mit ein bisschen Schminke … etwas Kostümierung … Ich kann diesen Bengel in einen scharfsichtigen Teufel verwandeln, der eingeschmuggelt wurde, um für den skrupellosesten Piraten der Blauen Meere einen Angriff aus dem Hinterhalt vorzubereiten! Die Vorhut von Burn Healy höchstpersönlich! Was halten Sie davon? Ist das nicht ein genialer Einfall?«
Er wartete auf die Antwort des Kapitäns, seine Augen funkelten vor Aufregung.
Der Kapitän sah einfach nur müde aus. »Bin nicht sicher, ob ich Ihnen folgen kann.«
Pilcher stieß einen ungeduldigen Seufzer aus. »Es ist meine Aufgabe, unseren Gästen eine spannende Reise zu einem exotischen, aber gefährlichen Land zu bieten. Exotik hatten sie schon bis zum Abwinken. Aber der abenteuerliche Aspekt war bisher die völlige Pleite. Auf Morgenröte gab es nicht mal Schlangen. Und dieser in Ketten gelegte Eingeborene, den wir vorgeführt haben, sah einfach nur deprimiert aus. Es wird bereits gemurrt. Die Leute wollen für ihr Geld ein bisschen Gefahr –«
»Und es ist meine Aufgabe, sie genau davor zu beschützen.«
»Ich rede nicht von echter Gefahr! Sondern nur von einem Abklatsch! Einem kurzen, aber heftigen Schauder! Der Andeutung eines Risikos. Und wenn wir von den Blauen Meeren reden, gibt es kein größeres Risiko als Piraten.«
»Schön. Nehmen wir an, er wäre ein Pirat –«
»Ich bin kein –«, fing ich an.
»Halt den Schnabel, Rotznase. Nehmen wir an, dass er einer wäre … was wollen Sie mit ihm machen? Ihn auspeitschen?«, sagte der Kapitän.
»Warum nicht? Der Junge hat Essen gestohlen, daran besteht kein Zweifel. Aber das reicht nicht. Die Strafe muss mehr Eindruck machen.« Pilchers Augen funkelten vor Aufregung. »Ich würde ihn gern auf einer verlassenen Insel
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